„Die Zeitsich selbst feiernder Besetzer­romantik ist vorbei“

Das bleibt von der Woche Der Konflikt rund um die Rigaer Straße wird weiter aufgebauscht, direkte Demokratie wird stärker akzeptiert, in der taz wird übers Radfahren diskutiert, und selbst Eis essen wird irgendwie immer komplizierter

Es hat sich schon etwas bewegt

FAHRRadDebatte in der taz

Immerhin lobte Geisel einen Kompromissvorschlag vom BUND

Am Ende machte sich der Senator dann doch noch unbeliebt – wie er selbst vorausschickte. „Wir sollten nicht vergessen, dass Radfahrer auch keine besseren Menschen sind – immerhin verursachen sie 50 Prozent der Unfälle, an denen sie beteiligt sind.“ Andreas Geisel (SPD) sprach’s auf dem Podium zum Thema „Wie viel Platz brauchen die RadfahrerInnen?“, zu dem die taz.berlin am Donnerstag ins hauseigene Café geladen hatte.

Die Zahl ist mit Vorsicht zu genießen, immerhin beinhaltet sie auch „Alleinunfälle“, etwa wenn ein betrunkener Radler aus dem Sattel kippt. Aber gut – es ging ja in der Debatte, an der auch der Grüne Stefan Gelbhaar, Kerstin Stark (Volksentscheid Fahrrad) und Volker Krane vom ADAC teilnahmen, in erster Linie um den Gesetzentwurf der Volksentscheidinitiative, der in der ersten Phase des Volksbegehrens hunderttausend Unterschriften einheimste.

Trotz zuletzt zaghaften Signalen der Gesprächsbereitschaft blieben die Positionen zu dem Entwurf, dessen Umsetzung reichlich Platz fürs Fahrrad schaffen würde, verhärtet. Geisel bezeichnete ihn als „Schnellschuss“, was Stark „frech“ fand. Schließlich hätten BürgerInnen und ExpertInnen monatelang daran gefeilt. Immerhin lobte Geisel ausdrücklich den vom BUND eingebrachten Kompromissvorschlag, den Radverkehr mit 40 Millionen Euro im Jahr zu fördern. Bewegt hat sich also allemal schon einiges.

Dass die landeseigene Grün Berlin GmbH eine „Radwegebaugesellschaft“ betreiben soll, ist für Geisel offenbar gesetzt – für Gelbhaar mitnichten. In etwaigen Koalitionsverhandlungen werden sich die beiden noch einiges zu sagen haben.

Claudius Prößer

Jedes Mal was Neues lernen

Direkte Demokratie

Um „Volksentscheid retten!“ zu verstehen, muss man Berlins Demokratie kennen

Deutschland hat generell ein schwieriges Verhältnis zur direkten Demokratie, weil diese – so zumindest das lang gepflegte Vorurteil – zum Ende der Weimarer Republik beigetragen habe. Umso erbaulicher ist die Entwicklung der 2006 in Berlin eingeführten Volksbegehren und -entscheide. Nicht nur, weil sie die politische Debatte dynamischer machen. Sondern auch, weil sie pure politische Bildung sind: Bei jedem Begehren lernt man etwas über die Demokratie im Allgemeinen hinzu.

Am Donnerstag kam die Bestätigung, dass der sogenannte Volksentscheid Fahrrad tatsächlich den stärksten Start aller bisherigen Initiativen hingelegt hat. 89.729 der in nur drei Wochen gesammelten Unterschriften sind gültig. Noch nie hat eine Begehren, bevor es überhaupt formal durch die mindestens 20.000 Unterschriften zum Begehren wurde, eine solche Wirkung in den politischen Raum hinein entfaltet. Schlicht deshalb, weil bisher niemand diese erste Stufe so ernst genommen hat wie die Rad­lobbyisten. Und vielleicht sind ihnen die weiteren Phasen gar nicht so wichtig, wenn es letztlich darum gehen könnte, eher das Anliegen – und nicht alle konkreten Forderungen – in Verhandlungen umgesetzt zu bekommen.

Auch die Initiative „Volksentscheid retten!“ war erfolgreich. Am Donnerstag reichte sie rund 70.000 Unterschriften ein, deren Gültigkeit jetzt geprüft wird. Damit dürften sie das Quorum von 50.000 überschritten haben, die für eine die Verfassung ändernde Initiative in der ersten Phase nötig sind.

Die vielen, ebenfalls schnell gesammelten Unterschriften sind bemerkenswert, denn um das Anliegen zu verstehen, muss man sich mit den demokratischen Verfahren beschäftigen. Die Initiative will Quoren senken, Fristen verbindlicher machen und Bürgern ein Vetorecht einräumen. Schön, dass darüber jetzt noch mehr geredet werden wird. Auch dabei lernen die Berliner mehr über ihre Demokratie. Bert Schulz

Es muss eine politische Lösung her

Rigaer Straße

Viele Berliner ver­stehen das massive Polizei­aufgebot als Angriff

Seit mehr als zwei Wochen ist die Polizei Tag und Nacht in der Rigaer Straße präsent. Hunderte Beamte sind dabei gleichzeitig im Einsatz, Einheiten aus anderen Bundesländern werden zur Verstärkung herangezogen – ein enormer Aufwand. Gleichzeitig gibt es Nacht für Nacht Autobrände und Sachbeschädigungen in der ganzen Republik. Und auch wenn die Aufregung um den in dieser Woche festgenommenen Brandstifter zeigt, dass nicht jeder Zündler der linken Szene zugerechnet werden kann, gibt es für einen großen Teil dieser Taten Bekennerschreiben, die einen Bezug zur Teilräumung der Rigaer94 herstellen.

An einem Fortbestand dieser Situation sollte eigentlich niemand Interesse haben. Weder die BewohnerInnen der Rigaer, die sich Tag für Tag mit Polizei und Sicherheitsdienst in ihrem eigenen Haus konfrontiert sehen, noch die PolizistInnen, die hier in einem symbolisch bis zum Letzten aufgeladenen Kampf verheizt werden, noch die Politik und insbesondere Innensenator Frank Henkel nicht, der sich mit seiner rigorosen Ablehnung von Verhandlungen selbst ins Abseits stellt.

Was also ist zu tun, um diese Situation zu beenden? Zweierlei: Zum einen muss Henkel akzeptieren, dass das massive Polizeiaufgebot in der Rigaer Straße als Angriff verstanden wird, und zwar von einem weit größeren Teil der Berliner Bevölkerung als den BewohnerInnen der Rigaer94 oder selbst deren SympathisantInnen. In einer Stadt, in der Freiräume – also unkommerzielle, selbstverwaltete Räume, die Platz für alternative Lebens- oder einfach nur Zeitverbringungsformen lassen – in rasendem Tempo verschwinden und Menschen durch den Verlust ihres Wohnraums existenziell bedroht sind, ist das kein Wunder, sondern eine Realität, die politisch anzuerkennen nicht bedeutet, vor GewalttäterInnen einzuknicken.

Zum anderen muss eine politische Lösung für die Rigaer94 gefunden werden. Viele ehemals besetzte Hausprojekte haben sich entschieden, mithilfe des Mietshäusersyndikats oder vergleichbarer Institutionen ihre Häuser zu kaufen und so langfristig der Spekulation zu entziehen. Das ist der richtige Weg – nicht nur, weil er Sicherheit für die BewohnerInnen bringt, sondern auch, weil er ein zukunftsträchtiges, langfristig solidarisches Modell an die Stelle sich selbst feiernder Besetzerromantik stellt. Die Politik muss hier Druck auf den Eigentümer ausüben, das Haus zu einem vernünftigen Preis anzubieten – und die BewohnerInnen müssen verstehen, dass diese Entscheidung keine Niederlage, sondern ein großer Schritt nach vorn wäre.

Malene Gürgen

Eis­kal­te Gen­tri­fi­zie­rer mit Parmesan

Ge­la­to-Wo­che

Die Wahl zwischen Erbeer-Balsamico und Birne-Parmesan kann dauern

Jetzt also auch beim Eis. Traurig, aber wahr: Die Eisdiele, seit Donnerstag wegen des Gelato-Festivals in Berlin besonders im Fokus, ist zum Spiegel zunehmender Gentrifizierung geworden. Um erst mal die Begrifflichkeiten zu klären: Gelato, Plural ­gelati, ist Italienisch für Eis. Und Gentrifizierung ist, wenn manches aufgehübscht, vieles aber teurer wird – und komplizierter. Schoko, Vanille, Nuss und neben ein paar Frucht­sor­ten noch das exotisch klingende Amarena – das war’s bis vor noch nicht allzu langer Zeit hinter der durchsichtigen Glasscheibe über den metallenen Eiskübeln. Das war auch gut so, denn dann dauerte das mit der Auswahl nicht so lang.

Aber heute? „Kai-Friedrich, möchtest du Mandel-Honig kalorienreduziert oder Erdbeer-Balsamico?“ Das sind natürlich Entscheidungen von einer Tragweite, die schon mal ein Minütchen in Anspruch nehmen können. Erdbeer mit Balsamico ist übrigens Eis des Jahres 2015, im Vorjahr war es Birne mit – kein Scherz – Parmesan.

Alles schon mal erlebt. Und zwar in der Bäckerei. Das ging da mal richtig fix, bei gleichbleibender Zahl verkaufter Brötchen. Bloß lauteten die Ansagen da am Sonntagmorgen kurz und knapp: „Zehn Schrippen!“, gelegentlich ergänzt durch: „Bitte.“ Wer alternativ daherkam, bestellte dazu „noch drei Roggen“ oder „vier mit Körnern“.

Alles passé. Die, die Geld in der Tasche haben, nehmen gern eine Laugenbrezel – „aber ohne Salz!“ – und ein Dinkel-Rosinen-irgendwas-Gemisch. Wenn’s wenigstens nur einer wäre! Aber bloß Schrippen zu nehmen, das scheint als prollig zu gelten.

Da ist es gut, mal weg von diesen Gentrifizierern hier zu kommen, mal in die Heimat ins Ruhrgebiet zu fahren. Dorthin, wo man in der Bäckerei statt irgendwelchen Geschaumses seine Tasse Filterkaffee trinkt oder, wenn’s im Magen zwickt, einen Kamillentee. Also rein in diese Bäckerei an diesem neuen See mit diesen neuen Häusern. Einer ist noch vor mir dran. Brötchen will er gar nicht, sondern „einen Chai Latte“, Modetee, ausgerechnet hier, unweit des alten Stahlwerks. Das Schlimmste aber: Die Verkäuferin holt, ohne zu zögern, den passenden Beutel aus einem Kästchen.

Im Eisladen, zurück in Berlin, habe ich Glück. Es ist keiner vor mir, der erst über Birne-Parmesan meditieren müsste. Schoko ist auch noch da. Ich atme auf. Komplett ist der Sieg der Gentrifizierer erst, wenn der Mann hinter der Theke italienisch abgewandelt sagen wird: „Bloß Schoko ham wa nich, nur wat mit Bindestrich.“ Stefan Alberti