„Sie flüchten in eine andere Realität“

PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNG Notorisches Lügen kann krankhaft sein. Die Ursachen liegen häufig in der Kindheit, sagt Psychotherapeut Hans Stoffels

Hans Stoffels

Foto: privat

69, ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie an der Park-Klinik Sophie Charlotte in Berlin und Professor des Instituts für Psychosomatik und Psychotherapie des BPA Berlin Brandenburg.

taz: Kann lügen krankhaft sein?

Hans Stoffels: Ja, in seltenen Fällen kommt das vor. Die Betroffenen lügen zwanghaft und zwar auch dann, wenn sie sich damit schaden. Meistens glauben sie selbst an ihre eigene Lüge. Wir sprechen in diesen Fällen von einer gravierenden Persönlichkeitsstörung, die dem zwanghaften Lügen zugrunde liegt.

Wie entsteht die Krankheit?

In der Regel beruht das auf großen Entbehrungen in der Kindheit. Also Situationen, in denen eine Mutter nicht verfügbar ist, in denen das Kind in ein Heim kommt. Die Realität ist dann so furchtbar, dass das Kind beginnt, sich in Tagträumen in eine andere Welt zu flüchten. Das ist bei normalen Jugendlichen eine ganz übliche Reifungsphase. Bei den krankhaften Lügnern setzt sich das aber auch im Erwachsenenalter fort.

Was passiert, wenn die Lügen aufgedeckt werden?

Sie erleben sehr unterschiedliche Reaktionen. Manche bereuen ihre Lügen und bitten dann um Verzeihung. Das kann so charmant geschehen, dass man glaubt, auch die Entschuldigung sei wieder eine Lüge – eine zweite Realität, die des reuigen Sünders. Die andere Möglichkeit ist, dass es zum Abbruch von Beziehungen kommt.

Was sind typische Lügen?

Die meisten Betroffenen suchen Zuwendung. Das führt dazu, dass sie sich oft als Opfer darstellen. Früher haben sie sich als Mitglied des Adels ausgegeben, gesagt: „Ich bin der Kronprinz“ oder „Ich besitze große Ländereien in Südamerika“. Heute statten sie sich mit einem Doktortitel aus oder schlüpfen in die Arztrolle. Ich hatte kürzlich jemanden, der gab an, er wäre im Entwicklungsdienst tätig. Oder ein Amateursportler, der sich als Profi ausgegeben hat.

Wann suchen Betroffene Hilfe?

Selten, weil sie selber leiden, denn damit können sie wenig anfangen, da flüchten sie davor. Sie suchen Hilfe, wenn die Umgebung sie unter den Druck der Wahrheit setzt.

Gibt es Chance auf Heilung?

Im günstigsten Fall durchaus. Dafür müssen die Betroffenen aber bereit sein, auch in schwierigen Situationen nicht wieder in diesen pathologischen Bewältigungsversuch zu flüchten. Dazu gehört es auch, dass der Therapeut erkennt, dass in diesen Schwindelgeschichten ein kreatives Potential liegt. Es ist erstaunlich, dass sie sich solche Dinge ausdenken, ihre bestimmten Rollen spielen und dann selbst glauben. Also sich gleichsam in der Rolle verlieren wie ein Schauspieler, der nicht mehr aus seiner Rolle heraus kann.

Interview:
Janina Käppel