Russischer Straßenkrieg mit offenen Fragen

Offiziell ist die Besetzung der Stadt Naltschik im Kaukasus durch „Terroristen“ erfolgreich beendet worden. Doch es wird noch geschossen. Und möglicherweise gab es viel mehr Angreifer und Todesopfer, als der russische Staat zugibt

MOSKAU taz ■ Die militärische Operation gegen islamistische Rebellen, die in der südrussischen Stadt Naltschik am Donnerstag über ein Dutzend öffentliche Gebäude in ihre Gewalt gebracht hatten, ist nach offizieller Darstellung gestern erfolgreich beendet worden. Dennoch blieben die Nachrichten aus der nordkaukasischen Republik Kabardino-Balkarien widersprüchlich. Noch am frühen Nachmittag berichteten Augenzeugen von Schusswechseln vor der Strafverfolgungsbehörde, wo sich eine Gruppe von Rebellen mit Geiseln verschanzt hielt.

Laut offiziellen Angaben kamen bei dem Überfall 12 Zivilisten und 24 Mitarbeiter der Sicherheitsorgane ums Leben, dazu 73 getötete Angreifer. Die kabardinischen Behörden sprachen demgegenüber von 91 toten Rebellen. Auch bei den Gefangennahmen gehen die Angaben auseinander: Während das Innenministerium 27 Gefangene meldete, sprach man in Naltschik von 36 Festnahmen.

Unklar blieb auch, wie viele Geiseln die Befreiungsaktionen der Spezialkräfte überleben konnten. Noch ist das Drama der Geiselnahme einer Schule in Beslan im September 2004 nicht vergessen, wo durch den Einsatz von Spezialeinheiten ein verheerendes Blutbad unter den Geiseln anrichtet wurde.

Vor diesem Hintergrund sind die Behörden bemüht, den Einsatz in Naltschik als Erfolg darzustellen. Die entscheidenden Fragen indes wurden bislang nicht beantwortet: Wie viele Terroristen waren beteiligt, konnten einige von ihnen untertauchen oder fliehen? Die offizielle Darstellung geht von rund 130 Angreifern aus. Das würde sich fast mit der Zahl der Getöteten und Gefangenen decken. Zivilisten berichteten dagegen von bis zu 500 Bandenmitgliedern.

Nach dem Überfall muss auch unter den Sicherheitskräften Panik geherrscht haben. Das berichtete eine Journalistin des Londoner IWPR-Instituts, die sich vor Ort befand. Demnach hätten die Militärs Feuer aus schweren Waffen eröffnet, ungeachtet dessen, ob sich Zivilisten in der Umgebung befanden. Wieder einmal hätte die Sicherheit der Bürger keine Rolle gespielt, heißt es weiter. Die tatsächliche Zahl der Opfer könnte daher noch weit höher liegen als die offizielle. KLAUS-HELGE DONATH