Rock-’n’-Roll-Urschreitherapie

ATTITUDE Die Sonics verweigerten bei ihren Auftritt im SO36 jede Konzession an die saubergespülte Popmoderne und rocktötende Baseball-Caps

Die Chancen, eine jener übrig gebliebenen Rock-’n’-Roll-Schablonen live zu sehen, Seele-Herausschreien im Takt, Instrumentalsoli mit 100 dB, bipolare Liebeserklärungen per Rockmusik, „Baby / you’re driving me crazy / I’m going out of my head / now I wish I was dead / Psycho!!“, schwinden täglich. Wer es irgendwie einrichten konnte, rannte darum am Dienstag zu den Sonics, den schon gereatrischen Garagenrockerfindern, den Schöpfern des Rock-’n’-Roll-Urschreis, die ihr erstes und vermutlich auch einmalig bleibendes Deutschlandkonzert im SO36 ablieferten.

Denn sowohl den drei original Bandmitgliedern aus Tacoma in Washington – Organist und Sänger Jerry Roslie, Saxophonist Rob Lind, Gitarrist Larry Parypa – als auch den restlichen, alterspassend gecasteten Musikern sah man an, dass sie Rock ’n’ Roll Attitude tatsächlich als Bürgerschreck benutzt hatten, als lebenshungrige Trotzreaktion auf Gesellschaftszwänge.

Sie sahen rechtschaffen alt aus. Sänger und Organist Roslie, der 1963 die seit drei Jahren erfolglos herumschrammelnde Surfband durch sein 16-jähriges überkandideltes Schreien in eine aufregende Rockband verwandelte, hat schwere Operationen hinter sich. Während des ausverkauften Konzerts blieb er hinter dem Keyboard sitzen und überließ die allzu screamintensiven Gesangsparts dem Bassisten. Dass der Rest der Band das mit dem wummernden, tieffrequenten Originalsound wettmachen konnte, war der Clou: Keiner der fünf Musiker machte Konzessionen an die saubergespülte Popmoderne. Keiner wollte etwas Harmonischeres oder Diffizileres sein, keiner wollte subtiler texten als in der herausgebrüllten Road-Sehnsucht „Have love, will travel“, der weiland im bibelfesten Washington verbotenen Hexenhymne „The Witch“ oder der Liebeserklärung an das irre Nervengift „Strychnine“, keinem ging es um Gefälligkeit, und keiner trug eine rocktötende Baseball-Cap. Stattdessen roher, stolzer, nach bestem Wissen und Gewissen und mit Falten und Bäuchen dargebotener Garagenrock, wie ihn danach hunderte von Bands neu interpretiert hatten – auch die Vorband „The Fuzztones“, seit den 80ern viel geliebte Neogaragenhelden, die zwar vital und authentisch, aber an diesem Abend wie Epigonen des Hauptacts wirkten.

Die Sonics, die nach Jahren der Kontaktsperre – Roslie war komplett von der Bildfläche verschwunden und meldete sich erst in den 80ern bei einem Journalisten – seit 2007 wieder ausgewählte Konzerte geben, demonstrierten der schwitzenden Berliner Crowd eindrucksvoll ihre Wurzeln, sogar die beiden neuen Stücke wurden stante pede bejubelt.

Man weiß nicht, wo die einflussreiche Band zwischen ihrer Auflösung 1968 und letztem Dienstag gewesen ist – dass Saxofonist Lind als Pilot arbeitete, ist eine der raren Infos. Egal. Beim Rock ’n’ Roll ging es nie um Eckdaten. Es ging, das haben die Sonics in Berlin beispiellos gezeigt, immer nur um das Wesentliche.

JENNI ZYLKA