Der Mythos vom guten Europa

Inszenierung Das Leben in Deutschland ist für Geflüchtete oft nicht so einfach wie erwartet. Warum Geflüchtete die Enttäuschung in der Heimat trotzdem verschweigen

Der Görlitzer Park in Berlin-Kreuzberg. Gibril Camara lebte hier Foto: Ivy Nortey

Von Ivy Nortey
und Hanin El-Auwad

Wenn Verwandte aus Gambia Gibril Camara fragen, was er in Deutschland macht, antwortet er: „Arbeiten“. Der 28-Jährige kam vor vier Jahren in Italien an, seit zwei Jahren lebt er in Berlin. Erst in einer Unterkunft, dann in einem Park in Kreuzberg. Er hat kein Asyl bekommen, ist aber geduldet, arbeiten darf er offiziell nicht. Also dealt er, um seine Familie in Westafrika zu unterstützen. „Womit ich mein Geld verdiene, erzähle ich ihnen nicht“, sagt er. „Es fragt auch keiner. Hauptsache, es kommt.“

Viele Geflüchtete kommen mit einem verklärten Bild von Europa in Deutschland an. Hier folgt die Enttäuschung, ein Leben in überfüllten Unterkünften ohne Arbeit und Selbstbestimmung. Oft finanziert die Familie im Herkunftsland die Flucht. Dementsprechend hoch sind die Erwartungen zu Hause.

Woher kommt die Illusion vom Paradies Deutschland? „Die Verwandten in Europa erzählen nur von den guten Seiten, von den Misserfolgen hörte man nie“, sagt Kaiss Bdewy. Der 27-jährige Syrer flüchtete vor drei Jahren aus Damaskus, bevor er ins Asylheim Eisenberg bei Jena kam. Er sagt: „Viele Syrer glaubten, in Deutschland wachsen Geld und Möglichkeiten an den Bäumen.“ Die Verwandten sind oft lange Zeit vor dem Krieg ausgewandert, viele kamen vor Jahrzehnten zum Studieren nach Deutschland. Sie erlebten nicht die Hürden, die Geflüchtete heute nehmen müssen.

Früher war die Situation anders, sagt auch Gibril Camara. Geld war leichter zu verdienen, und niemand wurde per Fingerabdruck registriert. Trotzdem hält sich in Camaras Heimat der Mythos vom guten Europa.

Vor einigen Monaten schaffte er es, seine Familie in Gambia zu besuchen. „Ich habe meinen Eltern von der Situation erzählt“, sagt Camara, „glauben wollten sie mir nicht“. Er wäre gerne in Gambia geblieben, doch der Druck von Familie und Gesellschaft, in Deutschland Geld zu verdienen, ist zu hoch. „Zu Hause sind alle glücklich, doch von Glück kann man keinen Reis kaufen.“ Also flog er zurück. „Wer versagt, braucht nicht wiederzukehren. Es ist eine Schande für die Familie“, sagt Camara. „Wer Zweifel an dem guten Leben in Europa äußert, lügt.“

Bdewy glaubt, viele Syrer inszenieren in den Sozialen Medien ein besseres Bild von ihrem Leben in Deutschland. „Die Menschen in Syrien sehen das und glauben, hier wäre alles perfekt. Aber viele kommen hier nicht zurecht und wünschen sich ihr altes Leben zurück.“ Doch durch den Krieg ist an eine Rückkehr nicht zu denken.

Diese Inszenierungen vermitteln ein verzerrtes Bild von der Realität. Auch Camara und Bdewy können den Kreislauf der Illusion nicht durchbrechen: „Meine Familie hat im Krieg genug Sorgen“, sagt Bdewy. „Ich konnte Ihnen nicht sagen, wie erschöpft oder enttäuscht ich war. Ich wollte sie nicht weiter belasten. Ich war ja in Sicherheit. Ich sagte ihnen: Das Leben hier ist wunderschön.“

„Wer versagt, braucht nicht wiederzukehren. Es ist eine Schande für die Familie“

Drei Jahre nach der Flucht hat Bdewy das Gefühl, seine Ziele hier erreichen zu können. Er versteht nun, wie die Dinge in Deutschland laufen, sagt er. Im Oktober beginnt er ein Studium in Lüneburg.

„Manchmal ist das Leben hart und manchmal ist es ok“, sagt Camara. Und jetzt? „Ich bin ok“, dabei schüttelt er mit gesenktem Blick den Kopf. „Für Flüchtende ist Europa das Paradies, für Geflüchtete die Hölle. Aber niemand darf Dich unglücklich sehen.“

*Name von der Redaktion geändert