Großbritannien vor neuer Atomära

Premierminister Tony Blair will weitere Kraftwerke bauen lassen und die Branche privatisieren. Auch Sellafield soll verkauft werden – trotz erneuter Sicherheitsmängel

DUBLIN taz ■ Der britische Premierminister Tony Blair hat eine neue Atomära eingeläutet und will neue Atomkraftwerke bauen lassen. Gleichzeitig soll die Atomindustrie des Landes privatisiert werden. Das Handelsministerium in London bestätigte bereits „Sondierungsgespräche“ mit den deutschen Stromanbietern Eon und RWE sowie der französischen EdF.

Der französische Konzern gehört zu den aussichtsreichsten Bietern. Da bliebe das Geld sozusagen in der Familie: Andrew Brown, der Bruder des britischen Schatzkanzlers Gordon Brown, ist Pressechef bei EdF.

Die Begründung der Regierung für ihren energiepolitischen Kurs: Atomkraft sei die einzige plausible Antwort auf die Klimaveränderungen durch Treibhausgase. So lautet zumindest das Ergebnis einer Studie, die von der britischen Regierung in Auftrag gegeben wurde.

Blair glaubt, dass er einen Konsens mit den anderen Parteien finden kann, da der Irakkrieg die Besorgnis um die Abhängigkeit der britischen Energieversorgung von instabilen Ländern im Nahen Osten verstärkt hat. Und den linken Labour-Flügel will Blair mit dem Argument überzeugen, dass die 8.000 Jobs, die durch die geplante Ausmusterung der Sellafield-Anlage in Cumbria im Nordwesten Englands verloren gehen, so erhalten blieben.

Die Atomindustrie stellt drei Bedingungen für das Engagement in neuen Projekten: großzügige Baugenehmigungen, Unterstützung bei der Atommüllbeseitigung und eine Strompreisgarantie. Die neuen Anlagen sollen auf dem Gelände alter Kraftwerke entstehen, zum Beispiel in Hinkley/Somerset, in Sizewell/Suffolk sowie in Hunterston im schottischen Ayrshire.

Trotz der Pläne für neue Atomkraftwerke will die britische Regierung die Atomkraftwerke, die noch in Betrieb sind, privatisieren. Sie unterstehen der British Nuclear Group (BNG), einem Subunternehmen der staatlichen British Nuclear Fuels Ltd. (BNFL). BNG ist für den Unterhalt und die Ausmusterung der restlichen 12 von ursprünglich 19 Atomanlagen zuständig. Eigentümerin ist aber die Regierung, und die Rechnung für die Ausmusterung, die sich auf rund 50 Milliarden Pfund belaufen dürfte, müssen die Steuerzahler begleichen.

Alle Anlagen haben bereits ein Abschaltdatum. Die letzte, Sizewell B, soll 2035 stillgelegt werden. Offenbar will Schatzkanzler Gordon Brown mit dem Verkauf, der mindestens 10 Milliarden Pfund einbringen soll, kurzfristig die Haushaltslöcher stopfen. Die US-Unternehmen Halliburton und Fluor haben bereits Interesse angemeldet.

Zu dem Atompaket, das verkauft werden soll, gehört auch die Plutoniumschleuder Sellafield. Anfang des Monats ist ein Geheimbericht bekannt geworden, in dem Sellafield erneut schwere Sicherheitsmängel bescheinigt werden. Der Bericht war von BNFL in Auftrag gegeben und von einem Manager der Anlage nach eingehender Recherche erstellt worden. „Die wissenschaftlichen Grundlagen für die Kontrolle der Anlage beruhen bestenfalls auf Auslegung der Vorschriften und schlimmstenfalls auf Ratespielen“, heißt es in dem Bericht, der dem Independent On Sunday zugespielt wurde.

Vor allem die 250 Millionen Pfund teure Anlage, in der Atommüll zur sicheren Aufbewahrung in Glas gegossen wird, kommt in dem Bericht schlecht weg. Das Kapitel trägt die Überschrift: „Homer Simpson arbeitet in Sellafield“. Kontrollkabel der Roboterarme waren abgeschnitten, hochradioaktive Flüssigkeiten wurde in Fässern gelagert, Sicherheitsfehler wurden nicht gemeldet, moniert der Autor des Berichts. Von manchen Sitzungen des Managements der Anlage wurden vorsichtshalber keine Protokolle angefertigt.

Auf Nachfragen reagierten die Manager „mit Arroganz oder technischem Jargon, um Nichtexperten einzuschüchtern“, heißt es in dem Bericht, der abschließend urteilt: „Da die Produktionsziele stets Vorrang haben, ist es schwierig, die Anlage ordnungsgemäß zu betreiben.“ Der Bericht war so verheerend, dass BNFL sich Rat beim französischen Konkurrenten Cogema holen muss. RALF SOTSCHECK

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