„Marktwirtschaft oder Gewerkschaftsstaat“

ARBEITNEHMERRECHTE Heiß umkämpft: Vor 40 Jahren trat das Mitbestimmungsgesetz in Kraft. Für die Gewerkschaft war das Gesetz eine große Enttäuschung – denn bei Stimmengleichheit bekommen die Arbeitgeber eine Stimme mehr

„Wird, wie zu erwarten, die Bedeutung der kollektiven Organisation von Arbeit schwächer, könnte sich auch die positive Einstellung zur Mitbestimmung wandeln“

„Mitbestimmung 2035: Vier Szenarien“, Studie der Hans-Böckler-Stiftung

Am 1. Juli 1976 trat das Mitbestimmungsgesetz in Kraft. Seither sind in Unternehmen mit mehr als 2.000 Beschäftigten die Aufsichtsräte paritätisch besetzt. In dem Gremium, dass den Vorstand eines Unternehmens beruft und kontrolliert, sind die Arbeitnehmer genauso stark wie die Arbeitgeber vertreten.

Das von der damaligen SPD/FDP-Bundesregierung eingebrachte Gesetz war lange umstritten – daran erinnert die Ausstellung „Vom Wert der Mitbestimmung“, die soeben in der Zentrale der Industriegewerkschaft Bauen Chemie Energie in Hannover zu sehen war und die nun als Wanderausstellung durch ganz Deutschland reist.

Die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände warnte auf ihrem Kongress „Marktwirtschaft oder Gewerkschaftsstaat“ 1974 vor der Einschränkung der unternehmerischen Freiheit. Heinz Oskar Vetter, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes, kritisierte dagegen: „Jede gesetzliche Regelung, die den Anteilseignern ein Stimm-Vorrecht einräumt, verdient nicht den Namen ‚Mitbestimmung‘.“

Damit meinte er den von den Arbeitgebern gestellten Vorsitzenden, der im Streitfall ein Doppelstimmrecht hat. Zudem kritisierte Vetter wie auch andere führende Gewerkschafter, dass bei den Vertretern der Arbeitnehmer immer auch leitende Angestellte zu wählen seien. Diese Regelung war auf Betreiben der FDP zustande gekommen.

Der Betriebsrat der Bremer Kellogg GmbH wandte sich deswegen Ende 1975 in einem Brief an die FDP-Bundestagsfraktion und verwies darauf, dass nach Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes leitende Angestellte der Arbeitgeberseite zugeordnet werden müssten. Diese und andere Proteste der Arbeitnehmer – darunter auch große Demonstrationen – blieben erfolglos: Am 18. März 1976 stimmten fast 95 Prozent der Bundestagsabgeordneten dem „Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer“ zu. Vetter bezeichnete es als größte Enttäuschung in seiner Amtszeit als DGB-Vorsitzender.

Ausgenommen sind von dem Gesetz sogenannte Tendenzbetriebe – etwa die Kirche und Verlage. Dort haben die Arbeitnehmer weniger Rechte. Auch in der Montanindustrie – Unternehmen, in denen Kohle, Stahl, Eisen und Eisenerz erzeugt wird – gilt das Gesetz nicht, denn dort gibt es seit den 50er-Jahren ein eigenes Mitbestimmungsgesetz, das weiter geht – Arbeitgeber und Arbeitnehmer stellen die gleiche Anzahl von Vertretern im Aufsichtsrat, dazu kommt ein neutrales Mitglied.

Immer wieder gab es in der Vergangenheit Versuche, das Mitbestimmungsgesetz zu ändern. 2004 bezeichnete der Bundesverband der Industrie das Gesetz in Zeiten einer globalisierten Wirtschaft als nicht mehr zeitgemäß und schlug eine Drittelparität vor – Arbeitnehmervertreter hätten dadurch an Einfluss verloren. In einem Bericht von Wissenschaftlern für eine vom ehemaligen sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf geleitete Kommission kommen sie 2006 zum Schluss, dass sich die Mitbestimmung in großen Kapitalgesellschaften bewährt habe und auch angesichts der Globalisierung nicht grundlegend verändert werden müsse.

Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung legt jedes Jahr ihre Mitbestimmungsstatistik vor. Danach gab es im vergangenen Jahr 635 paritätisch mitbestimmte Unternehmen nach dem Gesetz von 1976. In 343 Fällen handelt es sich dabei um GmbHs, gefolgt von Aktiengesellschaften (241), Kommanditgesellschaften auf Aktien (17), Kapitalgesellschaften & Co. KGs (13), Aktiengesellschaften nach europäischem Recht – Societas Europaea, kurz SE (12), und Genossenschaften (9). Vor zehn Jahren lag die Gesamtzahl noch über 700. Zudem gibt es durch das 2004 verabschiedete sogenannte Drittelbeteiligungsgesetz mehr als 1.500 Unternehmen mit 500 bis 2.000 Beschäftigten, in denen die Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten ein Drittel der Mitglieder stellen. Insgesamt sind 7.500 Frauen und Männer als Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten von rund 2.200 Unternehmen aktiv.

Die Hans-Böckler-Stiftung hat in ihrer Studie „Mitbestimmung 2035. Vier Szenarien“ einen Blick in die Zukunft gewagt. Dabei setzen die Autoren die Hoffnung in den Gesetzgeber, der eine echte paritätische Unternehmensbeteiligung ohne Doppelstimmrecht schaffen könnte. Nicht weniger wichtig sind ihnen die möglichen Auswirkungen von Individualisierung und Digitalisierung auf die Arbeitswelt: „Wird, wie zu erwarten, die Bedeutung der kollektiven Organisation von Arbeit schwächer, könnte sich auch die positive Einstellung zur Mitbestimmung wandeln – vom faktischen Verlust einer heute noch wirkungsmächtigen gesellschaftlichen Institution ganz zu schweigen.“ Joachim Göres