„Sie möchte leben“

Dokumente der Vernichtung 9 „Unternehmen Barbarossa“ – im Juni 1941 überfiel die Wehrmacht die Sowjetunion. Die taz dokumentiert Tagebuchauf-zeichnungen von Zeitzeugen

Die 16-jährige Schülerin Lena Muchina beschreibt in ihrem Tagebuch die Auswirkungen der Blockade Leningrads durch die Wehrmacht. Ziel war es, die Stadt auszuhungern:

25. Januar 1942. Es ist unvorstellbar, wie Mama und ich jetzt leben. Schon den zweiten Tag herrscht draußen grimmiger Frost bei wolkenlosem sonnigem Himmel. Wir haben wenig Feuerholz. Wir verbrauchen am Tag nur wenige Späne, um unsere Essen warm zu machen. Im Zimmer ist es schrecklich kalt, wir leben nur unter der Bett­decke.

29. Januar.Lange habe ich nicht mehr geschrieben. Ich finde nicht die rechte Zeit. Wir hatten zwei Tage lang kein Brot und kein Mittagessen, wir ernähren uns nur von der Suppe in der Schule und der Sülze. Mama ist so geschwächt, dass sie kaum gehen kann. Aber, welch ein Glück, gestern habe ich anstelle von Brot gutes Weizenmehl bekommen, 975 g, und Mama lebte völlig auf. Wir haben sofort ­Mehlsuppe und Fladen gemacht. Ich weiß nicht, ob wir durchkommen werden. Meine Mama ­haben diese beiden furcht­baren Tage völlig niedergeworfen. Sie ist sehr geschwächt, aber frohen Mutes. Sie möchte leben, und sie wird leben.

8. Februar.Gestern Morgen ist Mama gestorben. Ich bin nun allein.

Aus: Lena Muchina: „Lenas Tagebuch, Leningrad 1941–42“. Aus dem Russischen von Lena ­Gorelik und Gero Fedtke. List Verlag, Berlin 2014, Seite 212 f.