„Das Szenario erinnert an altrömische Opfer“

Das bleibt von der Woche Das Zentrum für Politische Schönheit droht, Flüchtlinge von Tigern fressen zu lassen, die Szenekneipe Kadterschmiede in der Rigaer Straße 94 wird geräumt, Michael Müller verstrickt sich in seiner Regierungserklärung in peinliche Widersprüche, und in der Volksbühne formiert sich Widerstand gegen den künftigen Intendanten

Flüchtlinge fressen lassen

KUNSTAKTION MIT TIGERN

Diese Aktion ist ein ziemlich deftiges Ausrufezeichen der Politkunstaktivisten

Man darf vielleicht mal wieder an Jan Palach erinnern, den tschechoslowakischen Studenten, der sich im Januar 1969 in Prag selbst verbrannte. Der Mann hatte keinen Liebeskummer. Er wollte ein Fanal setzen gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings und den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in sein Land.

Ein Märtyrertod. May Skaf wäre dazu bereit. Am Montag sagte es die Schauspielerin und Symbol des syrischen Widerstands im Rahmen der derzeit vor dem Gorki-Theater stattfindenden Aktion des Zentrums für Politische Schönheit (ZPS), die genau mit dieser Zielper­spektive spielt. Sterben nämlich.

Oder, präziser, sich fressen lassen. Und zwar von einem der vier Tiger, die das ZPS nach Berlin vors Gorki geholt hat für die Aktion „Flüchtlinge fressen – Not und Spiele“. Es ist eine Erpressungsaktion: Wenn die Bundesregierung nicht bis zum 28. Juni die Einreise von 100 Flüchtlingen via Flieger ohne Visum erlaubt und nicht ein Gesetz aufgehoben wird, das Fluglinien für die Beförderung von Menschen ohne Visa eine hohe Geldstrafe aufbrummt, werden sich verzweifelte Flüchtlinge von den Tigern fressen lassen.

Diese bewusst an altrömische Opferszenarien erinnernde, nun ja, Pointe ist dann doch ein ziemlich deftiges Ausrufezeichen der Politkunstaktivisten vom ZPS, die sich den allzu zart Besaiteten sowieso noch nie besonders entgegenkommend gezeigt haben mit ihren Performances. Und über Ausrufezeichen wird diskutiert. Auch, ob man sie überhaupt so setzen dürfe in der Grammatik eines höflichen politischen Diskurses. Und ob da nicht wieder die hier in die Pflicht genommene Kunst einen allzu großen Auslauf in ihrer Freiheit habe.

Und dass das, diese Todesdrohung, schlicht zynisch sei.

Was sie auch ist. Zynisch. Das allerdings ist die derzeitige Flüchtlingssituation aus der Perspektive der Flüchtlinge gleichfalls. Worüber, neben den Fragen nach der Kunst und natürlich den Tierschutzbestimmungen (es geht schließlich auch um die Tiger), dann schon auch diskutiert wurde und wird bei der „Flüchtlinge fressen“-Aktion. Von der Bundesregierung darf die keine Unterstützung erwarten. Am Mittwoch ließ sie mitteilen, dass sie „geltende Einreisevoraussetzungen nicht außer Kraft setzen“ könne.

Und Jan Palach? Wurde zur großen Symbolfigur mit seinem Tod. Mit Blick ins Geschichtsbuch muss aber auch gesagt sein, dass sich die Lage in seinem Land noch nicht wirklich entspannte, die nächsten zwei Jahrzehnte danach.

Thomas Mauch

Die nächste Eskalation des Frank H.

RIGAER STRASSE

Die Strategie des Innensenators ist eine Bedrohung für die Wohnqualität

Mit 300 Polizisten als Rückendeckung haben Bauarbeiter am Mittwoch die Kneipe Kad­terschmiede im Hausprojekt Rigaer Straße 94 ausgeräumt. Und nach den Medienberichten dieser Woche kommt es einem vor, als sei der Nordkiez durchgentrifiziert, wenn die Rigaer 94 fällt. Bewahre, ganz so ist es nicht. Denn das würde heißen, man unterschlage allein die drei Hausprojekte und linksalternativen Kneipen, die sich in Einmal-um-den-Block-Laufweite be­finden.

Was allerdings wahr ist: Diese Räumung bringt eine neue Härte in die Auseinandersetzung, die hier seit Monaten schwelt. Zugleich ist die Strategie des Innensenators Frank Henkel (CDU) eine Bedrohung für die Wohnqualität und Sicherheit im Viertel.

Keine Frage, auch unter AnwohnerInnen ist die Stimmung durchwachsen: Die, die in einem Farbbeutelbewurf kein gelungenes Element der Fassadengestaltung sehen und die vom Dreck, der Pisse, dem Sperrmüll, den Alkoholleichen vor den Hausprojekten genervt sind. Und jene, die froh sind, genau hier zu wohnen, wo sich kein Nazi ums Eck traut und die Vielfalt der Lebensentwürfe der modernen Baulückenarchitektur ihre Kühle nimmt.

Häufig mischen sich beide Befindlichkeiten in einer Person, und nicht selten hat die Einkommenssituation oder die Dauer der Anwohnerschaft gar nicht so viel mit der Schublade zu tun, in die der Nordkiezler so reinpasst. Die Ambivalenz ist sozusagen Teil der Entscheidung, hier zu leben.

Seit vergangenen Herbst behandelt der Innensenator diesen Kiez als Gefahrengebiet, als besonders gefährlichen Ort. Begehungen, Durchsuchungen, Beschlagnahmungen und Personenkontrollen folgten; die Räumung der seit Jahrzehnten etablierten Szenekneipe ist ein neuer Höhepunkt. Dass sich der Eigentümer, ein britischer Investor mit Sitz auf den Jungferninseln, ausgerechnet das Feigenblatt der Wir-wollen-hier-Flüchtlinge-unterbringen-Begründung vors Spekulationsgemächt hängt, macht die Sache nur grotesker.

Jedenfalls mutet es beinahe wie ein Wunder an, dass diese Strategie nicht längst zu einer Eskalation im Viertel führte, die sich keiner wünscht, der hier wohnt. Aber vielleicht ist genau das das Kalkül des Innensenators. Denn dann wäre es – die Geister, die er rief – tatsächlich da: das Gefahrengebiet Nordkiez. Manuela Heim

Himmel und Hölle in Bewegung

volksbühne

Dass Ansagen fehlen, was die Zukunft der Mitarbeiter angeht, stiftet Unmut

Eine Treppe senkte sich vom Himmel herab und fuhr in die Hölle. Genauer gesagt: Vom Schnürboden der Volksbühne schwebte sie in glühendem Licht langsam herab, auf ihr der Schauspieler Wolfram Koch, anfangs hoch erfreut ob dieses triumphalen Auftritts, am Ende, als er im Bühnenboden versenkt wurde, einigermaßen düpiert. So geschehen in „Apokalypse“, der letzten Premiere der Spielzeit. Das Bühnenbild ist in der Inszenierung von Herbert Fritsch ein großartiger Partner des Schauspielers, der den schwer zu verstehenden Text, die „Apokalypse nach der Offenbarung des Johannes“ fast alleine stemmen muss, nur von einer Souffleuse begleitet.

Dem Programm beigelegt war an diesem Abend der offene Brief, der „im Namen von zahlreichen Mitarbeitern der Volksbühne aus allen Abteilungen“ an das Abgeordnetenhaus in Berlin geschickt wurde. Sie geben der Befürchtung Ausdruck, dass mit Chris Dercon, dem ab der Spielzeit 2017/18 nominierten Intendanten, keine neue Kunst an die Volksbühne kommen werde. Sie beklagen die „Schleifung der Identität“ ihrer Geschichte. Und sie befürchten einen Stellenabbau bis hin zur Abwicklung ganzer Gewerke.

Dass hier Bühnenarbeiter und Werkstattleiter zusammen mit vielen Künstlern – wie dem Regisseur Herbert Fritsch, wie dem Schauspieler Wolfram Koch – unterschrieben haben, ist eben Teil dieser besonderen Identität, gewachsen aus der langjährigen Geschichte unter Frank Castorf und dem verstorbenen Bühnenbildner Bert Neumann. Man konnte die Hingabe und Sorgfalt, mit der die einzelnen Gewerke hier jedes Schräubchen, jedes Licht als Teil des großen Ganzen setzten, auch studieren und bewundern in Filmen, die der Filmemacher Thomas Heise 2014, zum 100-jährigen Jubiläum der Volksbühne gemacht hatte.

Dass ein Jahr vor dem Wechsel Ansagen fehlen, was die Zukunft der vielen Hundert Mitarbeiter angeht – klar stiftet das Unmut. Dass dies bei Intendantenwechseln oft vorkommt, macht die Sache nicht besser. Die Beschwichtigung aus der Senatskanzlei, struktureller Umbau in großem Ausmaß sei nicht geplant, hilft in ihrer Vagheit nicht wirklich weiter.

Wenn Tim Renner, der Staatssekretär für Kultur, Chris Dercon, dem Kandidaten seiner Wahl, dessen Antritt als Chef der Volksbühne ermöglichen will, sollte er jetzt schnellstmöglich für klare Ansagen sorgen.

Katrin Bettina Müller

Kultur

Die Dialektik des Michael Müller

Regierungserklärung

Müller will einen Aufstand der An­ständigen, aber nach seinem Gusto

Im Wahlkampf staatstragend aufzutreten und alle – wie es so gerne heißt – Demokraten einen zu wollen im Kampf gegen Intoleranz und politische Dummheit, ist eine schwierige Sache. Am Ende von Michael Müllers Regierungserklärung am Donnerstag im Abgeordnetenhaus war man nicht so ganz sicher, wen der SPD-Mann mitnehmen will. Und wen nicht.

Der Feind war klar, auch wenn Müller den Parteinamen der AfD nie aussprach in der Rede, deren offizieller Anlass der Hauptstadtbeschluss des Bundestages vor 25 Jahren sein sollte. Aber natürlich ging es vor allem um die Bilanz und die Ziele der SPD, knapp drei Monate vor der Abgeordnetenhauswahl.

Eines davon ist Müllers in dieser Deutlichkeit bemerkenswertes Engagement, die Rechtspopulisten am 18. September an der Fünfprozenthürde scheitern zu lassen: „Wir brauchen jetzt die Engagierten und Mutigen aus Kultur, Zivilgesellschaft, Parteien, Medien und Sozialpartnern, die gemeinsam dafür kämpfen, dass Rechtspopulisten in Berlin keine Chance bekommen.“ Und voller Pathos weiter: „Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit gekommen, um aufzustehen!“ Das klang schon fast nach Klassenkampf à la SPD.

Müller ist klar, dass die Parteien allein es nicht schaffen werden, die AfD zu marginalisieren. Er wird jene brauchen, die nicht ihn, ja nicht mal Grüne oder Linke wählen, sondern jene, die ihn gerne mit direktdemokratischen Nadelstichen piksen. Und er gönnte ihnen ein Lob in Wowereit’scher Größe: „Berlin ist eine kritische Stadt mit vielen engagierten Bürgerinnen und Bürgern. Das ist gut so, und wir sollten uns das für die Weiterentwicklung unserer Stadt nutzbar machen.“

Fragt sich, wie Müller das meinte. Denn allzu viel herausnehmen sollten sich jene dann auch wieder nicht: „Bürgerbeteiligung ergänzt den Parlamentarismus“, sagte der 51-Jährige an anderer Stelle. „Aber sie entledigt nicht das Parlament seiner wichtigsten Aufgabe – die Stadt im Interesse und Ausgleich aller Menschen zu regieren.“ Und an die Adresse der höchst erfolgreichen Aktivisten des Volksentscheids Fahrrad gerichtet erteilte er vermeintlichen „Maximalforderungen“ eine Absage und forderte stattdessen „Kompromissbereitschaft“ ein.

Einerseits fordert Müller mehr Einsatz von den von ihm wenig geliebten (Berufs)aktivisten dieser Stadt; andererseits versucht er, sie politisch in die Schranken zu weisen. Spätestens wenn nach dem 18. September Rot-Schwarz keine Mehrheit mehr hat, sollte der Regierende diese Haltung überdenken.

Bert Schulz