: Schulbesuch ausgelagert
ASYL Mehr als die Hälfte der rund 600 BewohnerInnen in Berlins größtem Flüchtlingsheim sind Kinder. Ein Besuch im Notaufnahmelager Marienfelde
■ 1953 errichtete Berlin das Notaufnahmelager Marienfelde für Flüchtlinge aus der DDR. Bis 1990 passierten 1,35 Millionen Menschen diese Aufnahmeeinrichtung. Marienfelde hatte damals eine Kapazität für 1.000 Menschen, die jedoch meist nur wenige Tage blieben. Daran erinnert heute eine ständige Ausstellung.
■ Ab den 1960er Jahren begann der Rückbau. Ein großer Teil der Gebäude wurden in normale Wohnungen verwandelt. Ab 1993 wurde das Lager als Zentrale Aufnahmestelle des Landes Berlin für Aussiedler genutzt. Im August 2010 wurde die Einrichtung feierlich geschlossen, weil kaum noch russlanddeutsche Aussiedler kamen.
■ Bereits vier Monate später jedoch wurde das Areal wiederbelebt und dem Internationalen Bund als Übergangswohnheim für Flüchtlinge und Asylbewerber übertragen. (mai)
VON MARINA MAI
Mehr als 30 Kinder mit bunten Schulmappen auf dem Rücken schieben sich frühmorgens durch das Tor vor den dreigeschossigen Gebäuden, die in den 50er Jahren für die Aufnahme von DDR-Flüchtlingen gebaut wurden. Es ist 8.30 Uhr, die Kinder, die im Flüchtlingsheim Marienfelde wohnen, sind auf dem Weg in die Schule. Eine halbe Stunde später wirkt das Gelände wie ausgestorben. Nur ein paar Lebensmittel hängen in Netzen aus den Küchenfenstern, weil die Kühlschränke knapp sind, und erinnern daran, dass hier Menschen leben. 600 Bewohner sind in Berlins größtem Flüchtlingsheim derzeit untergebracht, 320 von ihnen sind Kinder.
Uta Sternal ist die Leiterin des Heims. Die zierliche Frau weiß, dass ein Platz in Marienfelde unter Asylbewerbern begehrt ist. „Hier gibt es Dreiraumwohnungen: Jede Familie hat ein eigenes Bad und eine Küche“, sagt sie. Und zwischen den kleinen Häusern gibt es einen Spielplatz und einen Fußballplatz für die Kleinen. Die neuen Lager, die der Senat jetzt notdürftig in ehemaligen Schulen, Polizeigebäuden und Büroräumen errichtet, haben das nicht zu bieten – die meisten sind nur Bettenburgen.
Zwischen fünf und acht Personen leben in Marienfelde in einer Dreiraumwohnung. Es duftet nach frischem Kiefernholz wegen der neuen Möbel. „Als das Areal hier 2010 geschlossen wurde, landeten die alten Möbel auf dem Müll“, sagt Uta Sternal. Man dachte, die Einrichtung sei überflüssig geworden. Doch dann stiegen die Zahlen der Flüchtlinge, wenige Monate später wurde wiedereröffnet (siehe Kasten) und neu möbliert.
„Wir sollten zuerst 250 Menschen hier aufnehmen“, sagt Uta Sternal. Inzwischen seien es 600. „Platz zum Wohnen haben wir hier zwar für alle – aber es fehlt die Infrastruktur.“ Vor allem Plätze in Kitas, Schulen und Jugendfreizeiteinrichtungen fehlten. 14 Kinder stünden derzeit auf einer Warteliste für eine Schule, sagt Sternal, weitere stünden noch nicht einmal dort, weil das Gesundheitsamt mit den Eingangsuntersuchungen nicht hinterherkomme. Die benachbarten Grund- und Sekundarschulen haben je eine Klasse hierher ausgelagert, weil ihnen die Räume für den Unterricht der jungen Flüchtlinge fehlen. Für Uta Sternal ist das eine Notlösung. „Unsere Kinder können dadurch nicht von deutschen Kindern lernen“ – obwohl die Kinder oft sehr wissbegierig seien.
Auch die Fahrzeiten der Busse seien nicht geändert worden, seit hier 600 Menschen auf engem Raum wohnen, ergänzt Sozialstadträtin Sybill Klotz (Grüne). „Wenn es nur 40 der 600 Bewohnern einfällt, gleichzeitig mit dem Bus fahren zu wollen, ist das ein Problem.“
Die Grüne ärgert „das Gerede über angebliche Flüchtlingswellen“, wie sie es nennt. „Es ist doch mehr als peinlich, dass Berlin mit seinen 3,5 Millionen Einwohnern ein Problem damit hat, 12.000 Asylbewerber aufzunehmen.“ Die Probleme, so Klotz, entstünden nicht wegen einer herbeigeredeten Flüchtlingswelle, sondern „weil die Leute an wenigen Punkten in Lichtenberg, Spandau und bei uns konzentriert werden“.
Sozialsenator Mario Czaja (CDU) kennt die Position des Bezirks Tempelhof-Schöneberg, der nach Lichtenberg (derzeit rund 1.200) die meisten Asylbewerber (780) beherbergt. „Meine Verwaltung steht eigentlich beim Bezirk im Wort, Marienfelde nur mit 500 Flüchtlingen zu belegen“, sagt er. Doch da viele andere Bezirke bei der Bereitstellung von zusätzlichen Wohnheimplätzen mauern würden, hätte er keine andere Wahl, als 600 Leute nach Marienfelde zu schicken. „Ich darf zusätzliche Gebäude nur dann an den Bezirken vorbei als Notunterkünfte beschlagnahmen, wenn das der Vermeidung von Obdachlosigkeit dient“, sagt er. Dazu müssten sowohl Marienfelde als auch die marode Aufnahmestelle in der Spandauer Motardstraße bis auf den letzten Platz belegt sein.
In Marienfelde sei ein großer Teil der Bäder sanierungsbedürftig, berichtet Leiterin Sternal. Sie wurden in den 1950er Jahren mit gusseisernen Wannen und ohne Waschbecken errichtet und seit der großen Welle der DDR-Flüchtlinge 1990 nicht mehr genutzt. Da das Land Berlin aber kein Konzept für die Unterbringung von Flüchtlingen hat, ist an eine Sanierung derzeit nicht zu denken.
Immerhin: Die Probleme mit der Nachbarschaft halten sich in Grenzen. Es gebe zwar öfter Klagen über Kinderlärm, sagt Uta Sternal. „ Ich versuche, dass die Kinder im Innern des Geländes spielen.“ Auf der anderen Seite würden Nachbarn Kleidung, Kinderfahrräder und Weihnachtsgeschenke spenden. Sybill Klotz weiß von den Sorgen der Marienfelder über Autodiebstähle oder Einbrüche. „Das ist aber eine rein gefühlte Sorge. Die Kriminalität ist nicht angestiegen, seit die Asylbewerber hier wohnen.“
Die 17-jährige Tschetschenin Petina lernt deutsche Grammatik. Sie geht in eine Kleinklasse für Anfänger der deutschen Sprache gemeinsam mit fünf deutlich jüngeren Romajungen. Sekundarschule im Flüchtlingsheim heißt auch, dass es mangels Turnhalle keinen Sportunterricht gibt. Und es heißt, dass eine Lehrerin alle Fächer unterrichten muss – und das „binnendifferenziert“. Denn Petina lernt deutlich schneller als die Jungen, die gerade üben, Adjektivpaare wie hart-weich oder hell-dunkel zu sortieren.
„Drei Jahre lang bin ich in Tschetschenien zur Schule gegangen“, erzählt die 17-Jährige. Danach begann die jahrelange Flucht durch Russland, sie wurde von den Eltern und älteren Brüdern unterrichtet. Dass sie in Berlin wieder in einer Schule lernen kann, sei „einfach cool“.
Doch möglicherweise wird das Mädchen, das einmal Köchin werden will, nicht lange lernen dürfen. Denn die Schulpflicht geht in Deutschland nur bis zum Alter von 16 Jahren. „Eine Schule zu finden, die sie nach dem Deutschkurs aufnimmt, wird extrem schwierig“, sagt Uta Sternal. „Dabei braucht sie einen Schulabschluss, um eine Ausbildung machen zu können.“ So produziert Berlin Migrantenkinder ohne Schulabschluss.
Einige Heimbewohner haben sich mit einem Anwalt einen Schulplatz eingeklagt. Bei ihnen war die Rechtslage eindeutig: Die Schulpflicht verpflichtet Berlin, jedes Kind bis 16 zu beschulen. Petina hat diese Möglichkeit nicht.