Die Verschwendung eines Hauses

Die Stunden da man nichts voneinander wusste sind vorbei. Bochum hat einen neuen Intendanten. Elmar Goerden startet sein Eröffnungs-Wochenende ohne Text, aber mit fast dem gesamten Ensemble – und erntet seinen ersten Klatschmarsch

„Wir ernähren uns am Theater vom Kraftverbrauch“ Elmar Goerden

AUS BOCHUMPETER ORTMANN

Ganz allein steht er auf der großen Bühne des Schauspielhauses. Fast verlegen legt Elmar Goerden die Hand auf sein pochendes Herz. Das Premierenpublikum spendiert dem neuen Intendanten seinen ersten, für Bochum typischen Premieren-Klatschmarsch. Neue Besen haben es in der RuhrTriennale-Hochburg schon immer leicht gehabt – am Anfang.

Leicht war die Inszenierung von Peter Handkes nonverbalem Stück „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“ am Freitag nicht. Eine riesige choreografische Maschinerie aus Licht-, Ton- und Kleiderwechsel ist für die Inszenierung notwendig. Der Vorteil: Die Aufführung provoziert selten Skandale, sie präsentiert fast das gesamte neue Ensemble, sie lässt viel Raum für witzige Ideen. Ein Bruch zum letzten Intendanten ist das nicht und auch kein brachiales Statement zur Veränderung. Gestern zeigte sich der achte Intendant seit 1919 bereits mit seiner Version von Goethes „Iphigenie auf Tauris“ wieder dem Publikum. „Das konnte ich machen, weil die Stücke unterschiedlich genug sind“, sagt Goerden. Bei zwei ähnlichen Stücken könne man das im Kopf nicht mehr ausreichend trennen. Handkes „Klassiker“ von 1992 hatte in der Bochumer Frank-Patrick Steckel-Ära seine Deutsche Erstaufführung und besteht lediglich aus Regieanweisungen. „Das ist keine Pantomime“, sagt Goerden. Er hat mit fast dem gesamten Ensemble gearbeitet, einem Hund, einem Schaf und sechs TämzerInnen. Seine Choreografie der Menschen, die allesamt über einen zentralen Platz einer Irgendwo-Metropole flanieren, ist schnell, enthält Witz und auch ein paar sozialkritische Anflüge. Alles bleibt eher theatralische Comedy, aber so ist das wahre Leben ja auch. Auch wenn nicht immer Teufel oder schwarz gekleidete Reisigsammlerinnen auftauchen.

Die ersten Buhs gab es dann am zweiten Abend der Spielzeit. Der junge Regisseur Benjamin Walther hat Gotthold Ephraim Lessings „Miss Sarah Sampson“ entkernt und das erste bürgerliche Trauerspiel in die heutige Gesellschaft transportiert. Es fehlen nicht nur die Heroen und Götter und ihre wichtigen Probleme, bei Walther fehlt auch der bürgerliche Mief Lessings, dafür gibt es zeitgenössische Loops. Die Welt ist kalt geworden. Alle brauchen Parkas oder Mäntel. Das Liebespaar residiert in einer Abbruch-Kneipe, in der nur noch der Spielautomat funktioniert. Liebe dokumentiert sich in sexueller Schwanzbeschau und sadomasochistischer Neugier. Da hebt die Miss (hervorragend: Claude De Demo) auch mal vorn den Rock oder lässt sich auf den Hintern schlagen. Die böse Marwood (hervorragend: Lena Schwarz) scheint eher Opfer, denn Gift spritzende Intrigantin und der Frauenflüsterer und Automatenzocker Mellefont muss am Ende nicht mehr unters eigene Messer. Er bettelt um Gnade. Heute würde man sagen: O.k., ein minderschwerer Fall.

Als Intendant des Bochumer Schauspielhauses ist Elmar Goerden nicht Irgendwer. Die Bühne misst sich nicht nur republikweit, sondern im gesamten deutschsprachigen Raum. Auch wenn es nur ein Stadttheater unter vielen ist, Bochum ist immer etwas besonderes. Das haben bisher alle neuen Intendanten beteuert. Wie bedeutungsschwanger da im Handke Peer Gynts Zwiebel war, lässt sich noch nicht sagen – sich selbst genug darf sich dieses Haus nicht sein. Die Stadt tut gut daran, den neuen Intendanten nicht an Matthias Hartmanns Zahlengewitter zu messen, über das sich Goerdens Vorgänger in der Hauptsache definierte. Was Statistiken für eine qualitative Bedeutung haben, wurde bei der Bundestagswahl hinreichend bewiesen. Seine erste Inszenierung sei gleich „eine Verschwendung des Hauses“ gewesen, so Goerden. Er meint damit die dutzende Schauspieler in hunderten Rollen und die damit verbundene Logistik hinter den Kulissen. Ansonsten hat er nichts zum Verprassen. Das Stück wurde bereits von der Kunststiftung NRW und dem Ministerpräsidenten mitfinanziert. Die finanziellen Reste, die Hartmann hinterlassen hat, reichten nicht einmal für das übliche rauschende Eröffnungsfest. Goerden öffnete für einen Tag ein leeres Theater und erfreute sich am dennoch riesigen Interesse der Bevölkerung. Werbewirksame Schmeicheleinheiten an die Stadt verteilte er noch nicht, dafür gab es am Premierenabend freie Getränke.