„Komm, Mama, gehen wir nach Hause“

DOKUMENTE DER VERNICHTUNG 2 „Unternehmen Barbarossa“ – am 22. Juni 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion. Dem Vernichtungskrieg des Naziregimes fielen im Osten 25 bis 40 Millionen Sowjetbürger zum Opfer

Die deutsche Wehrmacht besetzte am 8. Oktober 1941 die südukrainische Stadt Mariupol. Am 20. Oktober transportierte das Sonderkommando 10 a die jüdische Bevölkerung auf Lastwagen an den Stadtrand. Die 32-jährige Studentin Sara Glejch beschreibt, wie sie das Massaker überlebte. Handschriftliche Tagebuchaufzeichnung:

Dann waren wir an der Reihe und hatten, als wir hinter die Scheune kamen, das ganze Schreckensbild eines sinnlosen, ja absurden, in Demut ertragenen Todes vor Augen. In diesem Leichenhaufen liegen irgendwo schon Mama und Papa. Ich hatte ihr Leben um einige Stunden verkürzt, weil ich sie mit dem Lastwagen losgeschickt hatte. Wir wurden zu den Gräben getrieben, die zur Verteidigung der Stadt ausgehoben worden waren. In diesen nun nutzlosen Gräben fanden 9.000 Juden den Tod. Man befahl uns, uns bis aufs Hemd auszuziehen, dann durchsuchten sie uns nach Geld und Dokumenten und jagten uns am Grabenrand entlang. Allerdings gab es schon keinen Rand mehr: Etwa einen halben Kilometer weit waren die Gräben bis oben gefüllt mit Leichen und mit tödlich verletzten Leuten, die um eine weitere Kugel bettelten, um endlich erlöst zu werden. Wir stiegen über die Körper. In jeder grauhaarigen Frau glaubte ich, meine Mutter zu erkennen. Ich warf mich auf die Leichen, ebenso Basja, doch die Stockschläge brachten uns wieder auf die Beine. Einmal schien mir, ein alter Mann, dem das Gehirn aus dem Kopf quoll, sei mein Vater, doch es gelang mir nicht, näher heranzugehen. Wir begannen, Abschied zu nehmen, küssten einander. Fanja (Sara Glejchs Schwester, 29 Jahre alt, Ingenieurin) konnte immer noch nicht glauben, dass es das Ende war: „Werde ich denn die Sonne und das Licht wirklich nie mehr sehen?“, sagte sie. Ihr Gesicht war blaugrau, und Vladja (Fanjas dreijähriger Sohn) fragte immer wieder: „Gehen wir baden? Warum haben wir uns ausgezogen? Komm, Mama, gehen wir nach Hause, hier ist es nicht schön.“ Fanja nahm ihn auf den Arm, weil ihm das Gehen auf dem glitschigen Ton schwerfiel. Wir wurden weitergetrieben. Basja rang immer wieder die Hände und flüsterte: „Vladja, Vladja, warum du? Niemand wird je erfahren, was sie mit uns gemacht haben.“ Fanja drehte sich um und erwiderte: „Mit ihm sterbe ich ruhig, weil ich weiß, dass ich keine Waise zurücklasse.“ Das waren Fanjas letzte Worte. Ich hielt es nicht mehr aus, fasste mir an den Kopf und schrie wie verrückt. Ich glaube, Fanja hat sich noch umgedreht und gesagt: „Sei ruhig, Sara, ruhig.“ Hier reißt alles ab.

Als ich zu mir kam, dunkelte es bereits. Die Leichen, die auf mir lagen, bebten: Das waren die Deutschen, die für alle Fälle noch einmal schossen, bevor sie weggingen, damit die Verwundeten nachts nicht fliehen konnten. Wie ich aus einem Gespräch der Deutschen heraushörte, fürchteten sie, dass viele nicht tot seien, und sie irrten sich nicht. Es gab viele, die lebendig begraben waren, weil ihnen niemand helfen konnte – doch sie stöhnten und flehten um Hilfe. Irgendwo unter den Leichen weinten Kinder. Die meisten, besonders die Kleinsten, die die Mütter auf dem Arm getragen hatten (man hatte uns ja in den Rücken geschossen), waren den getroffenen Müttern unverletzt aus den Händen gefallen. So wurden sie unter den Leichen lebendig begraben. Ich begann, mich unter den Leichen hervorzuarbeiten.“

Aus: „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Band 7: Sowjetunion mit annektierten Gebieten“. Dokument 107, Oldenbourg Verlag, München 2011