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Eine Kunst des Verschwindens

Körper Zwischen Humor und existenzieller Verwandlung: Zum Abschuss des Festivals „Projeto Brasil“ gab es Tanzstücke zu sehen, deren Stärke auch in ihren politischen und philosophischen Bezügen lag

von Astrid Kaminski

Ein Arsch betritt die Bühne. Er singt. Jedenfalls sieht es so aus. Denn das dem Publikum entgegengestreckte Körperteil ist hautfarben angestrahlt und Projektionsfläche für eine Frauenstimme aus den Boxen. Sogar den Mund – beziehungsweise die Öffnung, die man dafür halten könnte – scheint der Arsch zu bewegen. Wie eine Mischung aus archaischer Kunst und Comicfigur wirkt er.

Aber wer ist er oder zu wem gehört er? Zu dem Performer Thiago Granato, der sein Stück „Treasured in the Dark“, das den Abschluss des Festivals „Projeto Brasil“ im HAU bildet, mit diesem Arschgesicht einleitet? Oder zu den laut Programmheft zu einer Séance eingeladenen Choreografen Hijikata Tatsumi (1938–1986) und Lennie Dale (1934–1994)? Letztere haben die Ästhetik homosexueller Körper auf der Bühne etabliert: Hijikata als Gründungsvater des Butoh, des japanischen Antitanzes oder Danse noire. Der an Aids gestorbene Lennie Dale ist in Europa weniger bekannt. Laut – ohne Gewähr entschlüsselten – brasilianischen Internetergebnissen war er eine der Bossa nova verbundene Leitfigur gegen die Militärdiktatur und beherrschte die Inszenierung von hinten ausgezeichnet. In einem Clip erinnern Zeitgenoss*innen an seinen dynamischen Mix aus Revue, Michael Jackson und fast schon Pole-Dance.

Es ist wahrscheinlich, dass sich Thiago Granato in seinem zitathaften Eröffnungsmoment und den folgenden 90’s-Moves auf ihn bezieht. Und das ist in der momentanen politischen Situation Brasiliens mit der illegitimen Machtübernahme von Michael Temer, und nach den Hassmorden in Orlando mehr als eine Hommage. Es ist auch mehr als ein historisch-politischer Kommentar. Es ist etwas in diesem Zusammenhang Seltenes: Humor. Und etwas noch Selteneres: Humor ohne Zynismus. Es ist zum Giggeln.

Der Ernst kommt später. Wie fast alle Künstler*innen (bis auf die Gruppe Cena 11) des Festivals verliest Granato im Anschluss an seine Aufführung ein persönliches Manifest gegen die als Coup rechter Putschisten bezeichnete Amtsenthebung der gewählten Präsidentin Dilma Rousseff.

Abgesehen von der politischen Brisanz war die ästhetische Relevanz der brasilianischen Arbeiten – die nebenbei auch ein Quotendickerchen in die Tanzszene einführen – erstaunlich. Einiges von dem, was derzeit oftmals als bloßer Überbau von Stücken dient, befragen die Brasilianer*innen mit stringenten Dramaturgieen. Als großes spekulatives Motiv erscheint die Frage nach der Verwandlungsfähigkeit des Körpers: Wie kann sich das Bewusstsein aus dem Körper lösen, wie kann einerseits der Körper von außen gesteuert werden, andererseits Bewusstsein sich mit anderen Substanzen verbinden und diese in Bewegung bringen? Ausgelöst von Transgenderprozessen, ist diese Suchrichtung im Tanz inzwischen auch jenseits von Geschlechtlichkeit existenziell geworden: als post-religiöse Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Be- und Entkörpern. Als Subversionsmodell in Bezug auf eine Kontrolle der Mensch-Maschinen-Verschmelzung. Als animistisch inspiriertes Modell der Kommunikation zwischen belebter und unbelebter Materie.

Der Raum wird bei Michelle Moura zur vergrößerten Haut, zum neuen Körper

Am Beispiel von Protagonisten in Computerspielen sowie ausgehend von formalästhetischer Ritualkunde, entwickelte etwa das Punkkollektiv Cena 11 das Konzept eines externen Einflüssen ausgesetzten „Voodoo Body“. In „Monotony of Approach and Fugue for Seven Bodies“ werden die Körper der Performer*innen den strengen Gesetzen einer musikalischen Fuge unterworfen. Doch während Johann Sebastian Bachs unkörperlichen Töne die Engführung unbeschadet überstehen, können die Körper der Performer das Exerzitium nur bewerkstelligen, wenn sich ein Trancezustand einstellt und sie sich dem Prinzip notfalls durch Erschöpfung entziehen können. Konsequenterweise legen sie für diese Nagelprobe letztlich auch ihre insektenrüsselartigen Sauerstoffmasken ab.

Ein körpereigenes Übersystem hat Michelle Moura für die Soloperformance „Fole“, die klarste Arbeit des Festivals, entwickelt. Das Prinzip ist einfach: Sie hyperventiliert. Vom dadurch hergestellten Zustand lässt sie sich leiten. Es entsteht ein penetrant-labiles, lamentierendes, mal infantiles, mal expressionistisch-entgrenztes Vegetieren. Immer mehr verschmilzt Moura mit den Raumgrenzen, die durch ein akustisches Echosystem die Rhythmusspuren ihres Körpers aufnehmen und zu modulieren scheinen.

Der Raum wird zur vergrößerten Haut, zum neuen Körper, die Unschärfen der Verortung des Bewusstseins werden immer größer, bis die Umgebung den Körper am Ende ganz aufsaugt. Vielleicht ist dieses Selbstverschlucken das Gegenteil von Empowerment. Eine Kunst des Verschwindens, die auch als Antwort auf eine Politik des fatalen Behauptens gelesen werden kann.

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