Das Klagelied der Socken

Koreanische Woche der Wahrheit: Bei den Sockentaucherinnen von Pokdo

Die rauen Wellen des Gelben Meeres brechen sich am Bug des altersschwachen Kutters. In ihren Tauchanzug gezwängt sitzt Jimin Chung in der prallen Sonne auf den hölzernen Planken und zieht ihre Taucherbrille hervor. Feine Gischt benetzt das wettergegerbte Gesicht der alten Frau, auf den Lippen der salzige Geschmack des Ozeans. „Ohne das Meer können wir nicht leben“, erzählt Chung mit heiserer Stimme. Seit ihrem 16. Lebensjahr arbeitet die heute 70-Jährige als Pok, wie die Taucherinnen der koreanischen Insel Pokdo heißen. Wie schon vor 1.200 Jahren tauchen die Frauen noch heute nach Socken, um sich davon ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und wie seit jeher verzichten sie auf Sauerstoffflaschen und Schnorchel.

In das Tuckern des Schiffsmotors mischt sich das kehlige Lachen der Frauen, die sich nun ihre Taucherbrillen aufsetzen. Zum Schutz gegen die Kälte haben sie über ihre Gummianzüge noch einen gestrickten Stoffanzug übergestreift. Darunter haben sie sich einen schweren Gürtel mit Bleigewichten geschnallt, um schneller in die Tiefe zu gelangen. Als der Kapitän die Fahrt an einer Boje drosselt, halten die ersten die Luft an und springen von Bord. Nach kurzer Weiterfahrt ist Chung an der Reihe. Mit ein paar kräftigen Zügen durch das kalte Wasser taucht die erfahrenen Pok ab und hält nahe eines Riffs inne.

Das grelle Sonnenlicht ist auf einmal nur noch ein fahler Schein. Mit kräftigen Arm- und Beinbewegungen kämpft Chung gegen die starke Strömung an. Langes, wogendes Seegras umspielt ihren Kopf, während sie mit konzentriertem Blick am Meeresgrund eine Socke ausmacht. Chung weiß, dass es jetzt um Sekunden geht. Wenn sie zu lange zögert, ist der kräftezehrende, knapp einminütige Tauchgang umsonst gewesen. Manchmal müssen die Frauen in tiefe Felsspalten hineinschwimmen, um an die immer selteneren Socken zu gelangen. Dabei laufen sie die Gefahr, dass sie zwischen den Felsen stecken bleiben oder von Muränen angegriffen werden. Bis zu sieben Meter tief tauchen die Frauen, manche sogar noch tiefer, so wie auch einst Chung, als sie noch jünger war.

Als Chung wieder an die Wasseroberfläche kommt, hält sie triumphierend eine rot-grün-karierte Burlington-Socke in die Höhe. Ein fetter Fang, der ihr gut und gern 40 Euro einbringen wird. Der hohe Preis ist nur durch die dramatische Sockenknappheit auf den Weltmärkten zu erklären. Seit in den Boomstaaten China und Indien immer weniger Menschen barfuß laufen, ist die Nachfrage nach Socken förmlich explodiert. Der Sockenindex Sox 50, an dem die 50 größten Sockenhersteller gelistet sind, erklimmt ständig neue Höchststände und obwohl die Strickmaschinen weltweit heißlaufen, kann der Bedarf nicht mehr gedeckt werden. Den Taucherinnen von Pokdo wird von den Aufkäufern deshalb jede Socke buchstäblich aus den Händen gerissen.

Wie aber kommt es, dass ausgerechnet vor der Küste Südkoreas so große Sockenvorkommen am Meeresboden schlummern? Diese sind auf einen uralten Brauch koreanischer Hochzeitspaare zurückzuführen. Pokdo mit seinen lieblichen Landschaften und romantischen Buchten ist seit alters her das beliebteste Ziel für koreanische Honeymooner. Und es gehört zur guten Sitte, mit dem Ruderboot gemeinsam aufs offene Meer zu fahren und in einer feierlichen Zeremonie die am Hochzeitstag getragenen Socken der Frischvermählten zum Zeichen ewiger Treue im Meer zu versenken. Eine Tradition, die sich die Frauen von Pokdo seit langem zu Nutze machen.

Chung legt ihren Fang in ein Netz, das an einem Rettungsring hängt. Jedes Mal, wenn sie und ihre Kolleginnen auftauchen, entfährt ihren salzverkrusteten Lippen ein Pfeifen. Es hilft ihnen zum bewusst langsamen Atmen. Die Melodie der Pfeiftöne hat etwas Melancholisches, weshalb man sie auch „Das Klagelied der Socken“ nennt. Die Pok sind stolz auf ihre körperliche Kraft und ihre Fähigkeiten. Sie sprechen oftmals mit etwas lauteren, rauen Stimmen und sind dabei unverblümt und direkt. Vielleicht gerade deshalb wurden die Frauen von Pokdo in Korea zu Erotiksymbolen. In einem berühmten koreanischen Film watet eine halbnackte Pok aus dem Meer und lässt einen Mann eine weiße Tennissocke aus ihrer Hand empfangen.

„Es gibt immer weniger von uns“, seufzt Chung, als sie alle wieder vor ihrer Taucherhütte, der Pokgoya, um ein Lagerfeuer herum hocken, um sich nach den Strapazen auszuruhen und aufzuwärmen. Während sie fröhlich plaudern, breiten die Frauen die nassen Socken zum Trocknen auf den Felsen aus.

Die Sockentaucherinnen lieben das Meer und ihren Beruf, trotz all der Härten und Gefahren. „Wir gehen tauchen, auch wenn wir erkältet sind.“ Der Reiz ihres Berufes sei ihre Freiheit. „Es ist nicht wie in einer Firma, wo du den Befehlen des Vorgesetzten zu gehorchen hast“, sagt Chung. „Was ich aus dem Meer geholt habe, gehört mir.“

„Das Meer ist in einer traurigen Verfassung“, mischt sich da Kapitän Kim ins Gespräch ein. Er ist der einzige Mann hier und Eigentümer des Kutters. Auf seinen Kleinlaster hat der 58-jährige Fischer die Worte gemalt: „Lasst uns die blaue Socke für die Zukunft bewahren.“

„Jahr für Jahr wird es auch bei uns schwieriger, schöne Socken zu finden“, erzählt Kapitän Kim, der diesen typischen Fußgeruch der Koreaner nach Sellerie verströmt. Und wie kommen die Frauen mit den immer schwierigeren Bedingungen zurecht? „Wenn wir an einem Tag mal keine Socke gefunden haben“, sagt Chung mit einem Augenzwinkern, „dann stricken wir uns eben welche.“ RÜDIGER KIND