Brecht die Erwartungen!

Wenn dann alle schlaffen Popper (Sting!) „Mackie Messer“ gesungen haben, darf ohne Umschweife von multiplem Mord gesprochen werden. Mord, begangen an Brecht und Weill (wahlweise Eisler und Dessau gleich mit). Man mag es nicht mehr hören. Nicht die dahergejazzten Dudelinterpretationen, nicht die ernsthaft aufrüttelnden Darbietungen (episches Theater schön und gut, aber epischer Gesang?) und schon gar nicht das belanglose Altersgeplärre in die Jahre gekommener Pseudorockstars. Brecht hat neben dem physischen Ableben auch der Tod als Liederdichter ereilt. Eine Wiederbelebung ist nicht möglich. Das jedenfalls dachte ich bis vor etwa 10 Jahren. Da trat nämlich Georgette Dee in mein Leben, oder richtiger: Sie brachte Brecht-Lieder in mein Leben zurück. Bekannt war sie ja spätestens seit der atemberaubenden Show zur Verleihung des Kleinkunstpreises im Jahre 1993. Champagner in der einen Hand, die Welt in der anderen, zur Hälfte gerauchte Zigaretten, am Klavier der brillante Terry Truck … Brecht jedenfalls: Die hundertmal gehörten Lieder mit diesem Feuer, wenn nötig einer zerbrechlichen Zartheit, genau im richtigen Moment gesetzten Pointen und einem Schuss zeitgemäßer Ironie – das alles entspricht eventuell nicht ganz den Erwartungen des typischen Brechtabendpublikums und zeigt deshalb umso deutlicher, wie lebendig diese Lieder sein können. Es bräuchte nicht einmal die kongenialen Anmoderationen oder Modifikationen der Stücke, um sie auch fürs zeitgenössische Ohr glaubwürdig werden zu lassen. Das wirkt auch so, nur durch die stimmliche Leistung, die leicht verschobenen Betonungen, eben die Präsenz einer Bühnenpersönlichkeit, die ganz nebenbei Judith Butlers These vom sozialisierten Geschlecht empirisch belegt. Die vollständige, unmissverständliche und überzeugende Aneignung der komplementären Geschlechterrolle kann schließlich nur gelingen, wenn diese Rollen sozialisiert und nicht vererbt sind. Die Seeräuberjenny, auch wenn sie selber nur ein recht grober Schnitt ist, kann nur echt sein, wenn man nicht ständig denkt: „Das ist doch ein Typ im Kleid.“ Das gelingt Georgette Dee perfekt, und somit dekonstruiert sie (mutmaßlich nur bedingt beabsichtigt) Geschlecht wirksamer, als es so viele Queeraktive tun. Wo war ich? Brecht. Am kommenden Mittwoch (20.30 Uhr) sind die Diva und ihr Truck mit dem Brechtprogramm zu Gast im BE. Und eigentlich ist das hier nur dazu da, auf dieses Ereignis hinzuweisen, den Rest können Sie also getrost wieder vergessen. Und den Hinweis eigentlich auch, denn gerade kommt die Nachricht, dass die Veranstaltung ausverkauft ist. Ich bin untröstlich. Daniél Kretschmar