Auf Hoffnung gebaut

Prenzlauer Berg Die Rykestraße 13 galt als Vorzeigeprojekt der behutsamen Stadterneuerung: Genossenschaft gegründet, Bausubstanz gerettet, günstigen Wohnraum erhalten. Jetzt liegen Räumungsklagen auf dem Tisch. Wie konnte das passieren?

Vermutlich ihr letzter Frühling in der Rykestraße: Bewohner Brigitte D. und Martin Langner Foto: Joanna Kosowska

von Astrid Herbold

Weiß blüht der Zierapfelbaum. An der hellen Hausfassade rankt eine Clematis. Holzstühle laden zum Verweilen ein. Eine Hinterhofidylle, auf den ersten Blick. Stünden nicht mittendrin, mit abgekämpften Gesichtern, einige Bewohner. Für sie wird es vermutlich der letzte Frühling in der Rykestraße 13 sein. Dabei könnte man das alles hier eigentlich als „ihr Haus“ bezeichnen. Ihre Mauern, ihre Mühen, ihre Samen – ihr Werk.

Das Gesetz kennt freilich keine gefühlten Besitzer. Es kennt nur Mieter und Eigentümer. Eigentümer des Mehrfamilienhauses unweit vom Kollwitzplatz sind Jack und Elliot Mayers aus New York. Mieter waren mal die, die in den 22 Wohnungen in Vorderhaus, Seitenflügel und Hinterhaus gelebt haben. Jetzt sind sie nichts mehr – seit der Bundesgerichtshof (BGH) ihre Mietverträge für ungültig erklärt hat. „Uns sind mit diesem Urteil alle Rechte von Mietern abgesprochen worden“, sagt Martin Langner, der mit Frau und Söhnen im Hinterhaus wohnt. „Wir haben keinen Kündigungsschutz mehr, keine Härtefallregelung.“ Stattdessen bekamen die Bewohner Zahlungsaufforderungen; zwanzig-, dreißig-, vierzigtausend Euro fordert der Eigentümer. Zeitgleich flatterten Räumungsklagen ins Haus: Ausziehen, Wohnungen leermachen, Schlüssel übergeben, bitte.

Was ist vorgefallen?

Es geht, das gleich vorweg, nicht um die übliche Sanierungs- und Gentrifizierungstragödie. Keine Eigentumswohnungskäufer stehen Schlange; keine windigen Investoren wollen das Haus um jeden Preis entmieten. Im Gegenteil: Die Rykestraße 13 mit ihren sanft gebogenen Balkonen war stets ein Vorzeigeobjekt gelungener Stadtentwicklung. Mit Preisen ausgezeichnet, von Lokalpolitikern stolz präsentiert. Als die Häuser Nr. 13 und 14 Anfang der 1990er ihr gemeinsames Blockheizkraftwerk einweihen – das erste überhaupt in Prenzlauer Berg! –, wird das mit öffentlichem Tamtam gefeiert.

Das ist Vergangenheit. Drei Jahre Rechtsstreit liegen hinter den Beteiligten. Weitere Prozesse werden folgen. Der Ton ist rau geworden. Es geht um den Zustand von Haus und Wohnungen, um Mietnachzahlungen und Quadratmeterpreise. Trotzdem – die Rykestraße 13 ist mehr als ein bedauerlicher Einzelfall, der sich zufällig juristisch zugespitzt hat.

Von Nazis enteignet

Schwer lastet das Erbe der deutschen Geschichte auf dem Haus. Die Chronik des Hauses beginnt im späten 19. Jahrhunderts. Berlin boomt auch damals: Die Bevölkerungszahlen explodieren, überall entstehen neue Quartiere. In der Ryke 13, so hat es die Historikerin Annette Leo rekonstruiert, versucht sich 1891 Maurermeister Scheibel als Bauherr. Er hofft vermutlich, wie viele, dass sich in der Immobilienbranche Geld verdienen lässt. Aber Auflagen vom Amt – ein Vorgarten, ein Außen-Pissoir – lassen die Kosten explodieren. In den Folgejahren wechselt das Haus mehrfach den Besitzer. 1922 erwirbt es Jacob Steinberger, ein polnischer Jude, der in den Niederlanden lebt. 1942 wird Steinberger von den Nazis enteignet und deportiert. Er stirbt im gleichen Jahr.

Jack und Elliot Mayer sind seine Enkel, das Haus, das 1996 an ihre Mutter rückübertragen wurde, gehört mittlerweile ihnen. „Ein Familienangehöriger war mal hier“, erinnert sich Mieterin Brigitte D., in den 1990ern muss das gewesen sein. Der ältere Herr habe die Sanierung wohlwollend in Augenschein genommen. Auf die Frage der Bewohner, ob Familie Mayer ihnen das Haus nicht langfristig verkaufen wolle, antwortet er höflich, aber bestimmt. Von Grund und Boden trennt man sich nicht. Es sei das einzige, was durch alle Enteignungen hinweg Bestand gehabt habe.

Brigitte D., die seit fast 40 Jahren in der Ryke 13 lebt, hat großes Verständnis für diese Position. Dabei gäbe es das Haus ohne ihr Engagement möglicherweise nicht mehr. Als die DDR Ende der 1980er im Rahmen ihrer Plattenbauprojekte den Abriss des ganzen Straßenzugs beschließt, geht sie in den Wohnbezirksausschuss. Mischt mit, stellt unbequeme Fragen. Die damaligen Bewohner der 13 und 14 wollen ihr marodes Obdach unbedingt retten. Trotz Klo auf halber Treppe und Ofenheizung. Kurz nach der Wende gründen sie eine Mietergenossenschaft, die SelbstBau e. G.

Ein neues Wir-Gefühl

1989, 1990 – eine irre, wirre Zeit. Erste Spekulanten tauchen in Ostberlin auf. Der Genossenschaft geht es nicht vorrangig um Eigentum, sondern um ein neues Wir-Gefühl. Endlich die eigenen Lebensräume gestalten. Planungseuphorie macht sich breit. „Wir wollten nicht profitorientiert sein“, sagt Brigitte D. In Westberlin sucht man 1991 genau nach solchen Hausgemeinschaften, zwecks Ausschüttung der Fördergelder aus dem in Windeseile aufgelegten 24-Millionen-Programm zur sozialen Stadterneuerung. Die Rykestraße 13 erhält 1.725.900 DM. Das deckt 85 Prozent der Baukosten. Den Rest bringen die Bewohner selbst auf, meist in Form von Wochenendarbeit auf der Baustelle.

Vieles läuft damals parallel, die Ausarbeitung der Förderverträge, die Prüfung der Eigentumsverhältnisse, das langwierige Rückübertragungsprozedere, die Sanierungsarbeiten, die Auszahlungen der ersten Raten. Die Federführung hat ein eigens eingerichtetes Planungsbüro des Landes Berlin. Die Rykestraße 13 und 14 agieren als Einheit. Mit einem Unterschied: Die 14 kann ihr Haus kaufen, bei der 13 wird eine 20-jährige Pachtlaufzeit mit Elfriede Mayer, geborene Steinberger, vereinbart, der das Haus noch nicht offiziell gehört. Eine komplizierte Konstruktion. Haben andere Mietergenossenschaften ähnliche Verträge abgeschlossen? „Zur Anzahl vergleichbarer Pachtverträge gibt es keine Übersicht“, sagt Martin Pallgen, Pressesprecher der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt.

Ole Grünberg, der Anwalt der Mayers, erhebt wegen des damaligen Vorgehens auch Vorwürfe gegen das Land Berlin. Die Baumaßnahmen sind seiner Meinung nach unzureichend kontrolliert worden, manche Wohnungen seien unsaniert geblieben. Die alte Dame habe nur unterschrieben, „weil sie andernfalls Verzögerungen bei der Rückübertragung fürchtete und weil man ihr sinngemäß versprach, sie bekomme ihr Haus vollständig saniert und zur ortsüblichen Vergleichsmiete vermietet zurück“. Auch Jahrzehnte nach der Verfolgung durch die Nationalsozialisten habe sie „erhebliches Misstrauen gegen deutsche Behörden“ gehegt.

Zwei Jahrzehnte lang war die Ryke 13 eine der schönen, bezahlbaren Wohnoasen

Der 1991 vom Land Berlin ausgearbeitete Förder- und Pachtvertrag meinte es gut mit den Mietern. Staffelmieten sind nicht zulässig. Die Kaltmiete nach Abschluss der Baumaßnahmen wird auf 5,80 DM pro Quadratmeter festgelegt, Betriebskosten inklusive. Mieterhöhungen sind erlaubt, aber streng reguliert. Die SelbstBau sieht ohnehin keinen Grund, in der Rykestraße die Mieten zu erhöhen. Jahrelang zahlen die Bewohner unter 3 Euro pro Qua­dratmeter. „Das hat gereicht, um kostendeckend zu arbeiten“, erklärt Peter Weber, Vorsitzender der Genossenschaft. Und rechnet vor: In den vergangenen 20 Jahren habe man genug Rücklagen bilden können, um weitere Hausprojekte zwischenzufinanzieren. 17 Häuser besitzt die SelbstBau heute. Die Rykestraße 14 hat zudem – mithilfe der Mieteinnahmen aus der 13 – ihren Kredit abbezahlt. Rund 500.000 Euro seien als Pacht an die Eigentümer geflossen. Trotzdem war ausreichend Kapital übrig, um nötige Reparaturen am Haus vorzunehmen. Die Rechnung ging natürlich nur auf, weil keine sechsstelligen Sanierungskredite abzustottern waren. Ohne öffentliche Förderung muss auch die SelbstBau in anderen Häusern 8,50 Euro Kaltmiete nehmen. „Trotzdem sieht man daran, wie riesig die Gewinnspannen auf dem Mietmarkt mittlerweile sind“, sagt Weber. Das sei der eigentliche Skandal. Dass die realen Bewirtschaftungskosten gar nicht mehr als Maßstab angelegt werden. Im Gegenteil: In Prenzlauer Berg gelten 10 bis 12 Euro kalt mittlerweile als normal, fast fair.

Vielleicht hatten sich auch die Mayers ab 2013 auf höhere Einnahmen aus Deutschland eingestellt. Interviews gibt die Familie nicht. Dass sie die Mietverträge der Genossenschaft übernehmen sollen, leuchtet den Eigentümern nicht ein. Der Pachtvertrag ist schließlich ausgelaufen. Die Bewohner vertreten dagegen den Standpunkt: Die Mietverträge sind unbefristet gültig, warum ohne Not neue unterschreiben? Mehrere Juristen hatten ihnen geraten abzuwarten. Im Pachtvertrag ist die Übergabe nur kurz umrissen: Die Genossenschaft sei berechtigt, die bisherigen Nutzer als Mieter „zu benennen“; der Eigentümer verpflichtet sich, mit ihnen einen Mietvertrag zu „ortsüblicher Vergleichsmiete vermieteter Wohnungen“ abzuschließen.

Bis zum BGH

Jack und Elliot Mayer klagen. Sie wollen feststellen lassen, ob die alten Mietverträge weiterhin gültig sind. Zweimal unterliegen sie, beim Amts- und Landgericht. Das zweite Urteil zugunsten der Mieter fällt im Sommer 2015, Revision ausgeschlossen. Die Bewohner schicken ihren Anwälten eine Torte. Mieterhöhungen werden kommen, denken sie, aber in kleinen Schritten. Doch die Eigentümer ziehen vor den Bundesgerichtshof. Der hebt das Urteil am 14. Januar 2016 auf. Und verkündet: Seit 2013 bestünden keine „mietvertraglichen Beziehungen“ zwischen Klägern und Beklagten. Die Mieter hatten argumentiert, dass es sich nach BGB § 565 um eine gewerbliche Untervermietung des Hauptmieters (hier: der Genossenschaft) an sie, die Untermieter, gehandelt habe. Solche Verträge bleiben bei einem Eigentümerwechsel gültig. Der Bundesgerichtshof sieht das anders. Die Genossenschaft habe keine ausdrücklichen Gewinnerzielungsabsichten verfolgt, sondern äußerst mieterfreundlich agiert. Anders gesagt: Das Ganze war, egal wie kostendeckend, zu billig, um in Zeiten von explodierenden Mieten als gewerbliches Handeln glaubhaft zu sein.

Die Mauer, die den Hof von dem des Nachbargrundstücks trennt, ist mit bunten Graffiti bemalt. Davor stehen Dutzende Fahrräder. Zwei Jahrzehnte lang war die Ryke 13 einer der schönen und zugleich bezahlbaren Wohnoasen, von denen in den 1990ern viele träumten. Ein Haus, in dem die Bewohner zusammen „Subbotnik“ gemacht haben, wenn mal wieder der Keller aufgeräumt werden musste. Wie es nun weitergeht, ist ungewiss. Die Mayers haben Gutachter geschickt, die den Standard der einzelnen Wohnungen bewertet haben. Auf dieser Basis wurden die Mietnachzahlungen errechnet, rückwirkend für drei Jahre. Theoretisch können die Bewohner die Summen anfechten. Aber ihre Verhandlungsposition ist schwach. Eine Verfassungsbeschwerde wurde kürzlich ohne Begründung abgelehnt. Jetzt ist die einst eingeschworene Hausgemeinschaft in Auflösung begriffen. Manche haben das Geld überwiesen und neue Mietverträge bekommen. Viele sind weggezogen. Den 12 Parteien, die nach dem BGH-Urteil weitergekämpft haben, liegen Räumungsklagen vor.

Für die hohen Nachzahlungen, die alle betrafen, mussten sich etliche Bewohner verschulden. Die Ryke 14 hat kürzlich ihr Haus beliehen und hilft den Nachbarn jetzt mit günstigen Krediten aus.