Wochenschnack
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Die große Enttäuschung

Aufsteiger Die Krise der Sozialdemokratie ist verdient. Die Partei hat ihre klassische Basis abgehängt und sei nicht mehr zu verbessern, sagen taz-Leser

Sigmar Gabriel, die Galionsfigur des SPD-Niedergangs Foto: ap

Entwurzelt

betr.: „Das mürrische Glück der Aufsteiger“, Essay von Stefan Reinecke, taz vom 14. 5. 16

Sehr positiv denkt der Autor über die Sozialdemokratie, verkennt aber leider, dass es sich bei der seit Jahren die Partei beherrschenden niedersächsischen Mischpoke nicht allein um aufstrebende, sondern entwurzelte Aufsteiger handelt. Solche Exemplare verleugnen ihre Herkunft und wollen bei den Mächtigen unbedingt mitspielen. Die rhetorischen Fragen am Schluss des Artikels erübrigen sich daher. Natürlich würde die SPD – wieder an der Macht – alle Anstrengungen unternehmen, um sich bei den wirklich Mächtigen anzubiedern.

Wie die jetzigen Granden eher beleidigt agieren, verdeutlicht im Grunde doch deutlich, dass sie noch nicht mal eine Ahnung davon haben, weshalb der Wähler sie verschmäht.

Sie verteidigen stur das unübersehbare Desaster als einen Erfolg, das das Gebaren um die Agenda 2010 der Gesellschaft angetan hat. Dadurch werden ja nicht bloß die ärmeren Schichten unsäglich geschurigelt.

Mittels der damals in Gang gesetzten und den gesellschaftlichen Zusammenhalt destruktivierenden Arbeits- und sozialen Sicherungspolitik (Erlaubnis von Befristungen, Leiharbeit, Werkverträgen sowie der böswilligen Schwächung der umlagefinanzierten Altersvorsorge) wurden ja auch die „neue Mitte“ und die Facharbeiterschaft pulverisiert.

Und selbst die gut ausgebildeten Jüngeren, für deren „bessere Zukunft“ die ganzen „Reformen“ ja argumentativ auf den Weg gebracht wurden, finden sich heute in einer viel unsichereren und beschisseneren Arbeitswelt wieder.

Dass nun die Abgehängten dieser Politik – vor allem zu bestaunen in den klassischen Arbeitervierteln – xenophoben Parteien auf den Leim gehen, geht ursächlich auf die große Enttäuschung zurück, die die SPD zusammen mit den Grünen angerichtet hat.

HANS GÜNTER GREWER,

Saarbrücken

Ausbeutung

betr.: „Der Verrat des Aufsteigers“, taz.de vom 13. 5. 16

„Nehmen wir mal an, dass die SPD 2017 wundersam die absolute Mehrheit erringt. Was würde dann geschehen?“, schreibt Stefan Reinecke.

Ich bin mir sicher, dass ein Bundeskanzler Gabriel den Schröder machen würde.

Deshalb ist es für mich auch völlig ausgeschlossen, diese Partei zu wählen, auch wenn ich mich gemäß meiner politischen Überzeugungen als klassischer Sozialdemokrat bezeichnen würde.

Der SPD ist das Gespür dafür abhanden gekommen, dass es nicht alle nach oben schaffen können.

Es kann nicht nur Ingenieure, BWLer etc. geben. Leider dürfen heutzutage allenfalls noch Hochqualifizierte Fairness erwarten, während weite Teile der ehemals klassischen SPD-Klientel wieder massiver Ausbeutung ausgesetzt sind. COSMO, taz.de

Logischer Abstieg

betr.: „Das mürrische Glück der Aufsteiger“, taz vom 14. 5. 16

Während der Lektüre des Essays ist mir ein Fehlschluss aufgefallen: Es ist nicht erstaunlich, sondern logisch, dass die SPD bis heute unter der Agenda-Politik zu leiden hat. Und zwischendurch führte diese Politik zur Gründung und zum Erstarken der Linkspartei. Wer gegen die eigenen Wähler und die eigene Klientel Politik macht, hat es auch nicht anders verdient, dafür nicht mehr gewählt zu werden.

Und solange die SPD-Führung und/oder der SPD-Vorsitz diese naheliegende Erkenntnis nicht wahrhaben will, wird die SPD aus dem 20-Prozent-Loch zukünftig nicht herauskommen. ANDRÉ HARRS, Kaarst

Maskerade

betr.: „Der Verrat des Aufsteigers“, taz.de vom 13. 5. 16

Der Text enthält viel Richtiges, die Zerrissenheit der Aufsteiger ist sicher Ausgangspunkt der einzelnen SPD-Karrieren nach rechts gewesen. Allerdings wird so das Funktionale der Geschichte vergessen: Jenseits der individuellen Karrieren erfüllten Funktionäre wie Gabriel in dieser Zerrissenheit – man kann sie auch Janusköpfigkeit nennen – eine systemstabilisierende Funktion, nämlich die, der „eloquenten“ oder auch nicht so eloquenten „Putzfrau“ zu suggerieren, dass sie in der SPD immer noch eine Interessenvertretung habe. Eine, die zwar manchmal anscheinend entgegengesetzte Wege gehen müsse, dies freilich nur, um am Ende wieder den „kleinen Leuten“ zu nützen.

Es ist klar, dass ein geschickter Verkäufer wie Gabriel auf diese Weise auch noch die soziale Nützlichkeit von TTIP zu beweisen versucht. Hinter dieser Maskerade einer „Kleine-Leute-Partei“ hat aber die SPD seit 1914 zuverlässig das Geschäft des Finanz- und sonstigen Großkapitals, der Militärs und angeblichen „Sicherheitsbehörden“ betrieben. Ein williger Helfer der Macht. Und da dies schon seit über 100 Jahren so ist, hätte es eigentlich schon vorher ein Großteil der Wähler entdecken müssen.

An dieser Partei ist nichts mehr zu verbessern. Sie lässt sich nur noch ersetzen (ob nun durch eine linke Partei oder Bewegung, sei dahingestellt). Die Grünen haben seit ungefähr zwei Jahrzehnten ebenfalls diesen kritischen Punkt erreicht, an dem sie keine progressive Bewegung mehr und damit überflüssig geworden sind. Das habe ich allerdings auch erst mit zehn Jahren Verspätung erkannt.

ALBRECHT POHLMANN, taz.de

Kluge Wähler

betr.: „Der Verrat des Aufsteigers“, taz.de vom 13. 5. 16

Die Wähler sind nicht doof. Und was sie den Roten womöglich vielmehr nachtragen als die Agenda 2010, sind die unsäglichen Steuerreformen und der Sesselwechsel von Schröder zu Gazprom. Die Aufsteiger in der SPD und bei ihren (ehemaligen) Wählern, das sind die Wanderer, die mit dir und vor dir durch den Wald gehen und dir die Zweige ins Gesicht schnellen lassen. Aufsteigen und hinter sich die Tür zuknallen!

Und es kann noch schlimmer kommen. Denn wenn erst mal alle, die sich mit einem Potpourri aus Minijobs über Wasser gehalten haben, merken, was sie für die Maloche an Rente bekommen, dann gute Nacht. CHRISTINE KIEFER, taz.de

Jugendfehler

betr.: „Der Verrat des Aufsteigers“, taz.de vom 13. 5. 16

Ich denke, dass die Leute, die in den letzten 15 bis 20 Jahren in der SPD zu sagen hatten/haben nach einer Anerkennung der Eliten buchstäblich lechzen. Nicht, weil sie sich davon quasi eine bürgerliche Anerkennung für die Ideale ihrer Partei versprechen, sondern vielmehr aus persönlichen Beweggründen.

Die müssen ja nicht mal materieller Natur sein. Endlich mal zeigen, dass man reif und erwachsen ist und das, wofür man vielleicht mal früher bei den Jusos oder den Falken stand, einfach Fehler der Jugend waren und man inzwischen die Vielschichtigkeit und Komplexität der Welt verstanden und eingesehen hat, dass sie leider nicht so tickt wie sich das der durchschnittliche (potenzielle?) SPD-Wähler so vorstellt. Einfacher gesagt: wenn sich die SPD-Figuren nicht kaufen lassen, dann lassen sie sich jedenfalls von der geballten sozioökonomischen Kompetenz der Eliten um deren Finger wickeln.

JAROSLAW MAJCHRZYK, taz.de