Seht her, das ist israelische Popkultur

ROMAN „Eskimo Limon 9“ heißt der Debütroman der Berlinerin Sarah Diehl. Er handelt von einer israelischen Familie, die in eine hessische Kleinstadt zieht. Und er behandelt die Frage, was die Teenie-Komödie „Eis am Stiel“ mit dem deutsch-israelischen Verhältnis zu tun hat

VON JENS UTHOFF

Ihre Freundinnen heißen Ziggy, Racheli und Arkady. Wenn Sarah sich mit ihnen unterhält, dann sprechen sie über „Mein Kampf“, über Leni Riefenstahl oder über Otto Weininger, hierzulande als Antisemit und Frauenverächter bekannt. Sarah und Kumpaninnen reden viel über Antisemitismus, über den Holocaust. Manchmal machen sie auch Witzchen untereinander. Über die jüdische Weltverschwörung. Über Partnerbörsen für Juden. Über den Selbsthass der Juden.

Sarahs Freundinnen sind jüdische Mädchen, Sarah ist eine Figur in „Eskimo Limon 9“, dem Debütroman einer anderen Sarah, der Schriftstellerin Sarah Diehl. Und so ähnlich wie das Leben der Nebenfigur Sarah kann man sich, zumindest in Teilen, vielleicht auch das der schreibenden Sarah vorstellen. Bisher hat die 34-jährige Autorin und Dokumentarfilmerin zu feministischen Themen gearbeitet, in „Eskimo Limon 9“ widmet sich die Berlinerin der jüdischen Gegenwartskultur und dem deutsch-israelischen Verhältnis knapp 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. „Mir ging es darum zu zeigen, wie Menschen mit Geschichte umgehen“, sagt Diehl zur Thematik.

Diehl, die in ihrer Kreuzberger WG im Schaukelstuhl sitzt und über ihr Buch spricht, hat ebenfalls israelische Freundinnen, war selbst bisher fünf Mal in Israel. Die Ignoranz gegenüber jüdischen Lebensweisen im Täterland war für sie ein Grund, das Buch zu schreiben. „Da existiert eine israelische Kultur, die das jüdische Leben heute gut reflektiert und repräsentiert – und wir ignorieren sie zum Großteil“, sagt sie und ergänzt, über Popkultur könne man gut zwischen Deutschen und Israelis vermitteln.

Von deutsch-israelischen Popzusammenhängen erzählt schon der Titel ihres Buchs. „Eskimo Limon“ ist der israelische Originaltitel von „Eis am Stiel“, der legendären Teenager-Strand-Sex-Saga, die in den frühen 80er-Jahren unter deutschen Jugendlichen populär war. Die wenigsten wissen, dass die Komödien israelische Produktionen waren und ab Teil 3 von einer bundesdeutschen Firma mitproduziert wurden. Die meisten assoziieren die Reihe wohl mit Italien – für Diehl ist das willkommener Anlass zu zeigen: Seht her, hier ist sie, die israelische Populärkultur!

In Diehls Roman ist es Protagonistin Ziggy, die mit den Eskimo-Limon-Filmen von Boaz Davidson groß geworden ist. Ihr Sohn Eran kommt durch „Eis am Stiel 9 – The Party goes on“, einem Remake von 2001, mit dem Streifen in Berührung. Mutter Ziggy, Vater Chen und Sohn Eran sind eine israelische Familie, die es in ein hessisches Dorf verschlagen hat, als der Vater dort einen Job bekommt. Als sie in Niederbrechen, so der hübsche Name des Ortes, eintreffen, stoßen sie auf Verwunderung, Neugierde, Unwissen – weniger auf Ressentiments und Ablehnung. Was folgt, ist eine israelische Coming-of-Age-Geschichte in Deutschland.

Ziggy lernt Koffel, einen kauzigen, aber wachen Dorfbewohner kennen, der die jüdische Familie als sein neues Hobby entdeckt. In Ziggys Leben spiegelt sich das gegenwärtige jüdische Leben in Deutschland wie in Israel wider. Während sich Ziggy von ihrem Mann Chen entfernt, erkundet sie mit Koffel die Holocaust-Geschichte des Dorfes, in dem Anfang des 20. Jahrhunderts 123 Juden, 1948 keine mehr leben – und nun wieder drei.

Mutter Ziggy und Sohn Eran sind auf der Suche nach ihrer jüdischen Identität. Eran wird in der Schule mit ihr konfrontiert, während Ziggy sie in der Geschichte des fremden Landes sucht. Sie findet sie auch dadurch, dass sie gemeinsam mit israelischen Freundinnen Deutschland und Berlin bereist.

Die Charaktere sind stark, der Roman verliert nur dann an Kraft, wenn die Sujets allzu naheliegend sind: Das Holocaust-Denkmal, das besucht wird, die deutsche Analfixiertheit frei nach Freud, die zitiert wird, oder Sprachspielchen mit den Buchstaben KZ hat der Roman gar nicht nötig. Jedem deutsch-jüdischen Mythos, jedem popkulturellen Phänomen will Diehl nachgehen, an einigen Stellen ist das zu viel. Insgesamt bleibt es dennoch ein gründlich recherchierter, akribisch konstruierter, ein guter Roman.

„Eskimo Limon 9“ erzählt auch von der ausweglosen Lage im Nahostkonflikt. Diehl hat an eigener Haut die Spaltung in linken Kreisen an der Israelfrage erlebt. Sie sagt: „Ich habe sehr klare Haltungen zu sehr vielen Dingen. Aber zu diesem Konflikt habe ich keine klare Position mehr. Es führt für mich auch zu keinem Erkenntnisgewinn, sich da auf eine Seite zu schlagen. Wie sehr bestätigt man damit, wie verfahren das ist?“, fragt sie rhetorisch. Das „Durchgedrehtsein“ auf beiden Seiten verstehe sie gut.

Mit politischen Absurditäten ist Diehl groß geworden: Ihren Vater beschreibt sie als kommunistischen Patrioten, der in der CDU ist. Sie selbst ist in Bad Camberg – in unmittelbarer Nähe des real existierenden Niederbrechen – groß geworden. Diehl wohnt seit 14 Jahren in Berlin, hat Museologie, Afrikawissenschaften und Gender Studies studiert. Während des Studiums und im Anschluss hat sie immer im Grenzbereich von Kunst und Wissenschaft gearbeitet, zunächst zu popkulturellen, später zu dezidiert politischen Themen. Gerade reist sie in afrikanische Länder wie Uganda und Nigeria. Ihr nächster Roman soll das europäisch-afrikanische Verhältnis, Kolonialgeschichte reflektieren.

Sarah Diehl ist eine straighte Person. Für das Recht auf Abtreibung setzt sie sich seit acht Jahren ein. Sie hat zum Thema den Dokumentarfilm „Abortion democracy: Poland/South Africa“ gedreht und das Buch „Deproduktion – Schwangerschaftsabbruch im internationalen Kontext“ herausgegeben. Sie hält das Thema für unterrepräsentiert, gerade im feministischen Diskurs, wo man sich in den vergangenen Jahren sehr stark Geschlechterkonstruktionen widmete. 2004 hat sie die Anthologie „Brüste kriegen“ publiziert, in der feministische Ikonen aus verschiedenen Generationen wie Peaches oder Peggy Parnass über pubertäre Phänomene aus Frauensicht berichteten.

Es gibt bis heute einen Konflikt, der in Diehl tobt, und dem wir auch „Eskimo Limon 9“ verdanken: „Ich fühle mich politischen und feministischen Themen verpflichtet, aber es macht mich glücklicher, diese als Schriftstellerin denn als Dokumentarfilmerin zu bearbeiten. Was man als Schriftstellerin eben auch lernt, ist, Dinge einfach mal so stehen zu lassen. Ohne an ihnen zu verzweifeln. Weil man die menschliche Dimension dahinter noch besser versteht.“

■ Sarah Diehl: „Eskimo Limon 9“. Atrium Verlag, Hamburg, 2012, 320 Seiten, 19,95 Euro