Berliner Szenen: Morgens, U6
Zurückbleiben
Tief einatmen, den linken Fuß nach vorn und leicht wippend bereit sein. Dienstagmorgen im U6-Bahnhof. Das gelbe Metallmonster fährt quietschend ein. Meine Mitstreiter um einen Platz mit Sauerstoffzufluss sortieren sich rechts und links vom Eingang. Lärmend öffnen sich die alten Türen. „Einsteigen bitte.“
Meine Vorderfrau setzt einen Fuß vor die Schiebetür, auf der anderen Seite versucht ein kleinerer Herr sich in einen Zwischenraum hineinzuducken. „Lassen Sie uns doch bitte aussteigen“, entgegnet genervt ein großer Anzugtyp mit Halbglatze aus dem Inneren. Zwei Kinder sind schon draußen, weitere Menschen drängen in die Freiheit. Nach Mann mit Ziegenbart und weißen Kopfhörern folgt der Anzugstyp mit Kollegen. Ich fühle, wie sich jemand an meinen Rücken schmiegt, um eine Vorwärtsbewegung meinerseits zu beschleunigen. Aus dem Inneren taucht noch ein Kinderwagen auf, er ist schon halb durch die Öffnung ins Freie geschoben, da ertönt das herrische „Zurückbleiben“.
Die Höflichkeit geht im penetranten Tröten unter, alarmierend blinken die roten Leuchten. Rechts drückt sich der kleine Herr am Kinderwagen vorbei, links hievt die Frau mit dem Fuß in der Tür ihren Körper in die Öffnung. Der Rückenschmieger hinter mir verpasst mir einen gezielten Stoß. Mein Körper blockiert die sich schließende Schiebetür, und ich werde in Richtung Haltestange geschoben. Weitere Körper pressen sich in den Waggon.
Ein Ruck, es geht los. Meine Nase kitzeln die Nackenhaare einer kurzhaarigen Person. Meine Wange berührt die vergoldete Armbanduhr einer Herrenhand. Etwas Haariges berührt meinen Knöchel. Nächster Halt. Auf dem Bahnsteig sehe ich einen Neon-Westen-Schwarm von Grundschülern warten. Ich beschließe zu laufen. Leila van Rinsum
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