Fast wie Kant

Jürgen Habermas denkt intensiv über die Grundlagen des postsäkularen Gemeinwesens in der Religion nach. Doch es fehlt die Probe aufs Exempel

Habermas’ Philosophie verfügt über keine höheren Wahrheiten

VON MICHA BRUMLIK

Nein, es war weder ein Zufall noch bloße geistespolitische Diplomatie. Der radikaldemokratisch Philosoph Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger, damals Chef der vatikanischen Glaubenskongregation, führten Anfang des Jahres 2004 einen Dialog, weil beiden eine Sache wichtig ist: Sie wollen das Humanum retten in einer vom Selbstlauf des Marktes und der Dialektik der Naturwissenschaft bedrohten Welt.

In der jetzt erschienenen Aufsatzsammlung „Zwischen Naturalismus und Religion“ weist Habermas mit guten Gründen nach, dass auf Marktlogik und wissenschaftlich-technische Effizienzsteigerung getrimmte westliche Gesellschaften um ihrer eigenen freiheitlichen und moralischen Grundlagen willen darauf angewiesen sind, dem Erbe der monotheistischen Weltreligionen in ihrer Mitte Geltung zu lassen. Verfügen doch nur die Religionen – neben den Artikulationen der Kunst – über „differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten […] für verfehltes Leben, […] gesellschaftliche Pathologien, für das Misslingen individueller Lebensentwürfe und die Deformation entstellter Lebenszusammenhänge“.

Dabei vertritt Habermas auf den Spuren Immanuel Kants eine strikt philosophische Perspektive, die vielleicht als Religionsphilosophie, mit Sicherheit aber nicht als religiöse Philosophie oder gar als philosophische Theologe auftritt. Diese philosophische Perspektive zeichnet sich dadurch aus, dass sie im Unterschied zu religiösen Überzeugungen über keinerlei höhere, offenbarte Wahrheiten verfügt, sondern sich allein auf für alle nachvollziehbare, verallgemeinerungsfähige Gründe beruft. Welchen Zugang aber hat man so zu Menschen, die weltliche, politische, demokratische Herrschaft deshalb nicht akzeptieren können, weil sie nur Gottes Willen erfüllen dürfen? Und die sich deshalb demokratisch zustande gekommenen Gesetzen allenfalls äußerlich unterwerfen, ohne sie in ihrer Legitimität anzuerkennen?

Eine auf Religion bezogene, selbst aber nicht religiöse Philosophie steht damit vor zwei Aufgaben: Sie muss die Grundlagen demokratischer Gemeinwesen mit ihren unterschiedlichen Zumutungen an gläubige, agnostische und ungläubige Bürger klären – und religiöse Inhalte in ihrer Funktion für das demokratische Gemeinwesen einer postsäkularen Gesellschaft nichtreligiös bewerten.

Beides hängt zusammen. Denn man kann westliche oder sich nach westlichem Muster modernisierende Gesellschaften vor möglicherweise blutigen Auseinandersetzungen nur bewahren, wenn die ungläubigen oder agnostischen Staatsbürger wissen, dass das politische Außerkraftsetzen der Überlieferung für die Gläubigen eine besonders Bürde ist und es ihnen zudem gelingt, den Gehalt der religiösen Überlieferung in eine öffentliche, allen verständliche Sprache zu übersetzen. Dabei ist dann keineswegs nur an radikalislamistische Fundamentalisten in Staaten der EU zu denken, sondern eben auch an jene evangelikalen Bewegungen in den USA, die die Präsidentschaft George W. Bushs wesentlich beeinflusst haben.

Die „rettende“ Übersetzung religiöser Überlieferungen in die Alltagssprache einer profanierten Gesellschaft kann nach Habermas deshalb gelingen, weil die Tradition des biblischen Monotheismus eine wesentliche Grundlage aufgeklärter demokratischer Gemeinwesen ist. Es geht also letztlich um das Einholen der eigenen Grundlagen. Als Beispiel ließe sich die etwa im deutschen Grundgesetz beglaubigte und mit normativer Kraft ausgestattete „Würde des Menschen“ verstehen, die man aus der biblischen Gottesebenbildlichkeit herleiten kann. Andererseits – und hier könnte ein Widerspruch vorliegen – darf die Philosophie sich auch bei dieser Übersetzungsarbeit nicht anmaßen, „selber zu entscheiden, was an Religionen wahr oder unwahr ist“.

Der philosophische Übersetzer dürfte demnach, um im Bilde zu bleiben, zwar feststellen, dass die „Gottesebenbildlichkeit des Menschen“ seinen eigenen aufgeklärten Intuitionen entgegenkommt, der zwar nicht biblisch verankerte, aber doch traditionell überlieferte Höllenglauben jedoch nicht. Zudem sollen derlei Übersetzungen ohne „Absicht der Einmischung“ oder der „feindlichen Übernahme“ vorgenommen werden.

Habermas kann die rationale Rekonstruktion von Glaubensinhalten als Gegengewicht wider die restlose, trostlose Vernaturwissenschaftlichung des menschlichen Selbstverständnisses nur auf der Basis einer letztlich optimistischen Grundannahme fordern: dass die geforderten Übersetzungsleistungen genau deshalb möglich sind, weil die profanierte Sprache der aufgeklärt-demokratischen Gesellschaft letztlich Fleisch vom Fleische der monotheistischen Tradition ist.

Diesen Optimismus kann sich der philosophische Betrachter genau deshalb leisten, weil er sich – leider – der Probe aufs Exempel bisher entzogen hat. Sind die zentralen Mysterien des christlichen Glaubens etwa, wie sie sich in den liturgischen Handlungen von Abendmahl oder Taufe äußern, tatsächlich in eine öffentliche Sprache übersetzbar – wo sich bislang noch nicht einmal Protestanten und Katholiken über deren Sinn einigen können? Lässt sich jüdischer Erwählungsglaube republikanisch kompatibel übersetzen? Oder die Überzeugung der Muslime, dass der Koran dem Propheten wortwörtlich offenbart wurde?

Mit der asketischen Sympathie gegenüber dem universalistischen, leidsensitiven Charakter der biblischen Tradition allein wird es also nicht getan sein. Aller methodischen und moralischen Selbstbeschränkung zum Trotz wird sich gerade eine postmetaphysische Philosophie sehr viel stärker auch der Sache nach auf theologische Fragen einlassen müssen. Dass dafür eine angemessene Sprache noch nicht gefunden scheint und überzeugende Beispiele nur in Ansätzen vorliegen, spricht nicht dagegen, sondern unterstreicht nur die Dringlichkeit der Aufgabe.

Jürgen Habermas: „Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 372 Seiten, 16,80 €