Der kalte Hauch des Kala-okae

Koreanische Woche der Wahrheit: Warum Koleaner Mozalt, Schubelt, Blahms lieben

Südkorea 1962. Als der Forschungsreisende Alfons Schurigel in Pusan landete, klopfte er sich den Staub vom Paletot und betrat das erstbeste Gasthaus. „Sulgapshi ôlma imnikka maekju?“, fragte er. „Tul Won“, der Wirt reckte zwei dicke Finger in die Luft. „Das ist ja geschenkt“, rief Schurigel hoch erfreut und hob den rechten Daumen. Stante pede wurde ein frisches Kotau-Bier über den Tresen geschoben. Schurigel nahm einen großen Schluck.

„Und was ist hier sonst so los?“, schmiss sich der Feldforscher nun lehrbuchhaft an einen sehnigen Greis, der neben ihm an einer Ginsengwurzel lutschte. Der Alte wackelte mit dem Kopf und murmelte: „Die Taejon-Tigels welden helabsteigen, um Changgo, Chwago und Yonggo zu schlagen.“ Der Forschungsreisende starrte ihn blödsinnig an. Der vergilbte Alte starrte listig zurück. „Kala-okae“, keckerte er. „Kala-okae, sul, kisaeng.“ Jetzt war der Groschen gefallen: Gesang, Suff und Weiber.

„Sapristi“, entfuhr es Schurigel, sollte es tatsächlich möglich sein …? Im Geist repetierte er die uralte chinesische Chronik, welche man ihm im Tal der nasenpfeifenden Mönche ausgehändigt hatte, nicht ohne den berühmten Kakofoniker Schurigel eindringlich vor der Weiterreise zu warnen: „Der Koreaner“, hieß es dort, „versammelt sich oft, singt, trinkt und tanzt, ohne bei Tag und Nacht damit aufzuhören. Aber hüte dich, Fremder, vor dem Selleriedunst seiner Füße, denn er beizt die Nase wie sonst nur das Fell des Kragenbärs zur Brunftzeit.“

In Schurigels Augen glomm es triumphierend. Er war am Ziel. Endlich würde er den dämonischen Ritus, diese Urform orgiastischen Grauens, an der Quelle studieren und Professor Mamelock in die Suppe spucken. Diesem stocktauben Philister, der das Kara-okae immer noch als folkloristische Narretei japanischer Provenienz verharmloste. Alfons Schurigel wusste es besser. Nippon konnte man vieles ankreiden: die Instantnudel, Weltkrieg II oder Godzilla, Teil I bis XXV. Aber die „drei Gehorsamkeiten der Frau“, das Taekwondo und Karaoke waren Gräuel, die zweifelsfrei Koreas heidnisches Siegel trugen.

Prompt streifte Schurigels Nacken ein kalter Hauch. Die Tür hatte sich geöffnet und die Vettern Pak Ein Ho, Pak Aus Ho und Pak Dich Ho in die Schankstube geweht, nebst den Damen Woo und Was, besser bekannt als Taejon-Tigers, die härteste Karaoke-Posse Koreas. So stand es jedenfalls auf den Visitenkarten, die die Vettern jetzt unter tiefen Verbeugungen an die Zecher verteilten. Währenddessen türmten die Damen diverse Steine, Altmetalle, Flöten, eine Zither und eine viersaitige Mondlaute zu einem beeindruckenden Schrottberg. Frau Was komplettierte das Ensemble durch drei riesige Trommeln.

„Changgo, Chwago und Yonggo“, raunten die Zecher ehrfürchtig und fielen auf die Knie. Kurz darauf begannen die Vettern das merkwürdige Instrumentarium mittels Zangen, Bambusstäbchen und mächtigen Prügeln zu traktieren. Die Tigerladys quiekten monotone Silbenketten in den pentatonischen Mahlstrom.

Der Kakofoniker war ja einiges gewohnt, aber hier schien sich etwas Unaussprechliches, etwas schaurig Inferiores, welches seit Jahrhunderten in widerlichen Haufen auf den Gipfeln der Bergen gebrütet hatte, zu entladen. Es klang wie „Kung, sang, gak, ch’i, pyon-kung, honk. Pyon-ch’i, kung, sang, gak.“ Was das denn sei, brüllte Schurigel dem Greis ins Mittelohr.

„Flanz Schubelt: Das Heidelöslein“, brüllte der Gelbe hocherregt zurück. Was kein Wunder war, denn vor ihm wiegten sich nur spärlich bekleidete Jungfern im Tanz. Schurigel fasste es nicht. „Schubert? Franz Schubert?“ – „Schubelt wal eben. Das Mozalt, Don Giovanni, Maskentelzett.“ – „Alle Wetter“, rumpelte es Schurigel durch den Schädel, „hier stimmt etwas nicht.“

Immer wilder hämmerten die Trommeln, immer rauschhafter taumelten die Körper über Tische und Bänke. Schurigel, kaum mehr imstande, seine Nerven in Zaum zu halten, bellte dem Sklerotiker entgegen: „DAS KANN, DAS DARF NICHT MOZART SEIN!“ – „Blahms“, röhrte der Koreaner, „jetzt Blahms: Viel elnste Gesänge.“ Und wie zum Beweis furchte der Slerotiker röchelnd durch das Requiem: „Denn es geht dem Mensche wie dem Veeh. Wie dies stilbt, so stilbt er auch, johoho.“

Unterdessen hatte sich der akustische Fallwind zur Orkanstärke aufgeschwungen, und durch den Raum zog ein unheiliges Selleriearoma. Schurigel hielt den Atem an und stöhnte: „So, das ist jetzt wohl der Chor der Walküren?“ – „Nein, das Korean Blues“, heulte der nun völlig enthemmte Greis. „Heißt: In de ganze Welt hab ich nul wenig Fleunde.“ – „Stimmt“, dachte der Forschungsreisende und floh so schnell er konnte zurück nach Heidelberg. Dort angekommen, ging er der Sache nach. Mit Erfolg. Wie sich herausstellte, beruhte die Schändung urdeutschen Kulturgutes auf fehlerhafter Transskription der Gebrauchsanweisung für ein japanisches Tonbandgerät, das ein südkoreanischer Industriespion beim Kaufhof in Castrop-Rauxel entwendet und mit 20 – ebenfalls nicht legal erworbenen – Originaltonbändern der Deutschen Grammophon nach Seoul geschafft hatte, wo sie, laut gewöhnlich gut unterrichteten musikpädagogischen Kreisen, noch heute rückwärts laufen sollen.

MICHAEL QUASTHOFF