Macht vor Recht

Sihem Bensedrine und Omar Mestiri kritisieren die Sicherheitspolitik der EU in Nordafrika. Denn ebendiese fördert Diktatur und verhindert Demokratie

Die politische Repression treibt den Terrorgruppen immer mehr Anhänger zu

VON RUDOLF WALTHER

Die beiden tunesischen Intellektuellen Sihem Bensedrine und Omar Mestiri gehören zum demokratischen Widerstand gegen das autoritäre Regime des Diktators Ben Ali, der Tunesien seit fast zwanzig Jahren regiert. Das Buch kritisiert die Zustände im Land, mehr noch: Es präsentiert der Europäischen Union eine längst fällige Rechnung.

Das Jahr 1989 brachte für den europäischen Osten wie für den Süden die Hoffnung auf mehr Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Spätestens der 11. September 2001 bereitete dieser Hoffnung ein jähes Ende. In dem Maße, in dem sich die westlichen Staaten auf Sicherheit und Terrorbekämpfung einstellten, gewannen die autoritären Regimes an Ansehen.

Bensedrine und Mestiri zeigen diesen Prozess exemplarisch auf am Fall Tunesiens, das sich mittlerweile als autoritäres Modell und Vorbild für Algerien, Marokko und Libyen herauskristallisiert hat. Mit der Erklärung von Barcelona vom November 1995 verpflichteten sich die Staaten der EU dazu mitzuhelfen, den Mittelmeerraum zu einer „Zone der Freiheit und Stabilität“ auszubauen. Auch der G-8-Gipfel bekannte sich im Juni 2004 zur „Partnerschaft für Frieden und Stabilität“ im größeren Mittleren Osten und Nordafrika.

In der Praxis sah die Politik der EU freilich ganz anders aus. Frieden erwies sich lediglich als eine beschönigende Umschreibung für die liberale Marktöffnung und für die Forderung nach der Privatisierung von Staatsbetrieben. Die Marktöffnung zerstörte Teile der heimischen Kleinindustrie und des heimischen Handwerks, und die Privatisierung bereicherte vor allem die regierungsnahen Clans. Das Bekenntnis zu Stabilität geriet unter dem Primat der Sicherheit und der Kontrolle der Migrationsströme zu einer Unterstützung der tunesischen Polizeiapparate mit EU-Mitteln.

Im Januar 2004 schuf die Nationale Behörde für informationelle Sicherheit in Tunis auf Wunsch der EU-Innenminister den Straftatbestand „illegaler Grenzübertritt“, und der deutsche Innenminister reiste mehrmals nach Tunesien, um mit dem dortigen Regime über Sicherheitsfragen und den Kampf gegen Terroristen und Terroristenhelfer zu diskutieren.

Das ist einigermaßen gespenstisch, denn nach dem tunesischen Gesetz über Terrorismus vom 12. Dezember 2003 gilt als Terrorismus alles, was „darauf abzielt, die Politik des Staates zu beeinflussen und ihn zu zwingen, etwas zu tun, was er nicht gehalten ist zu tun, oder etwas zu unterlassen, was er gehalten ist zu tun“.

Mit diesem, gelinde gesagt, bizarren Gesetz ist es der tunesischen Regierung gelungen – wie Bensedrine und Mestiri eindrücklich darstellen – die demokratische und sozialistische Opposition im Namen des „Kampfes gegen den Terrorismus“ auszuschalten. Das Land blähte den Sicherheitsapparat auf und schuf Sondergerichte und Sonderrechte, mit denen Grundrechte eingeschränkt wurden.

Anfang der Achtzigerjahre gab es in Tunesien noch eine lebendige Presselandschaft. Heute sind 245 Zeitungen übrig geblieben, wovon ganze zwei sich gelegentlich trauen, vorsichtige Kritik am Regime zu üben. Das Ergebnis der Analyse der beiden Autoren lautet: „Solange den europäischen Partnern die Stabilität des Regimes über alles geht, gibt es nicht die geringste Chance für einen demokratischen Machtwechsel“ in Tunesien. Bensedrine und Mestiri sprechen zu Recht von einer „Komplizenschaft“ der EU-Staaten mit den autoritären Regimes und von der „kriminellen Heuchelei“ der doppelten Standards, etwa bei der Frage der militärischen Intervention.

Für Marokko sieht die Bilanz nicht so bedenklich aus, weil sich das Regime eine liberale Fassade zulegte und Opposition in gewissem Umfang zulässt. Wie schnell diese jedoch an eine rote Linie gelangt, erfuhr ein Offizier, der Le Monde ein Interview gab und die korrupten Machenschaften des Militärs anklagte. Er musste daraufhin für 30 Monate ins Gefängnis und wurde aus der Armee entlassen.

Frieden erwies sich als beschönigende Umschreibung für die liberale Marktöffnung

Nachdem in einem brutalen Bürgerkrieg zwischen Militär und bewaffneten islamistischen Gruppen rund 200.000 Menschen ums Leben kamen, mauserte sich auch Algerien zu einer „weichen Diktatur“. Oppositionelle werden nicht mehr ermordet, sondern mit juristischen Mitteln zum Schweigen gebracht. Zeitungen werden nicht mehr verboten, sondern ruiniert, indem man ihnen Kredite sperrt.

Von der EU gibt es zwar viele Papiere über die Chancen, die Menschenrechtssituation zu verbessern, aber keinen konsistenten Plan, wie man den Regimes mehr Spielraum für demokratische Kräfte und zivilgesellschaftliche Netze abverlangen kann. Im Haushalt für 2005/06 ist kein Projekt dafür eingeplant.

Sicherheit und politische Stabilität haben sich in den Köpfen der europäischen Politiker zu regelrechten Obsessionen ausgewachsen. Aber genau das garantiert, wie Bensedrine und Mestiri eindrücklich demonstrieren, gerade keinen Schutz gegen Terrorismus, sondern erzeugt diesen fast treibhausmäßig.

Die Unzufriedenheit über die desolate wirtschaftliche und soziale Lage sowie die politische Repression der autoritären Regime und die unglaubliche Korruption treiben den radikalen islamistischen Terrorgruppen immer mehr Anhänger in die Arme. Denn sie weisen scheinbar den einzigen Ausweg aus der Misere. Den islamistischen Ideologen liefern die westlichen Regierungen die Argumente frei Haus: Die Forderung nach universellen Menschenrechten macht sich restlos unglaubwürdig, wenn westliche Regierungen die Macht über das Recht stellen, sobald es um die eigenen Interessen geht.

Sihem Bensedrine, Omar Mestiri: „Despoten vor Europas Haustür. Warum der Sicherheitswahn den Extremismus schürt“. Aus dem Französischen von Ursel Schäfer. Kunstmann Verlag, München 2005, 224 Seiten, 16,90 €