Glücksfall im Asyl

Ein neuer Trend unter den Theaterverfilmungen: Gorkis „Nachtasyl“ in der Regie von Hardi Sturm ist eine gelungene TV-Adaption (22.40 Uhr, Arte)

von CHRISTINE WAHL

Der Schauspieler hat den Zenit seiner Karriere leider überschritten. Mit der bildungsbürgerlichen Poesie, die er früher allabendlich über die Rampe deklamierte, traktiert er jetzt in akuten Workaholic-Anfällen einen Puppenkopf mit Harlekinsmütze. Denn in die Nähe eines Publikums, das für Shakespeare zahlt, hat es ihn schon lange nicht mehr verschlagen.

Dort, wo er seine Tage fristet, schachert man um eine Viertel Pirogge und einen Fingerhut Wodka. Eine auf einem räudigen Lager dem Tod entgegenvegetierende Frau um die dreißig schiebt ihre Tagesration bereitwillig dem stumpfsinnigen Gatten zu, der sie vormals halbtot geprügelt hat: Wer sowieso stirbt, muss nicht mehr essen.

Düsteres Kellerloch

Das sind die Gesetze der Überlebenslogik in Maxim Gorkis Drama „Nachtasyl“ (Uraufführung: Moskau 1902). In diesem düsteren Kellerloch gehen sich neben arbeitslosen Schauspielern und bleichen Todgeweihten auch abgehalfterte Barone, arbeitslose Mützenmacher oder Berufsdiebe auf die Nerven, die ihre gesamten Tageseinkünfte in die hartherzige Vermieterin investieren und selbige überdies auch sexuell bei der Stange halten müssen.

Gestalten wie die Hure Nastja sind hier wahre Lichtgestalten: mit ihren vierundzwanzig Jahren und ihrem herzzerreißend schadhaften Gebiss liest sie leidenschaftlich Groschenromane und ist wenigstens noch in der Lage, sich einen „Traumprinzen“ vorzustellen, während schlecht riechende Mitbewohner wodkaselig auf ihr die Hose öffnen. Der Rest der Notgemeinschaft kann sich wahrscheinlich gar nicht mehr erinnern, über so etwas wie eine Illusion überhaupt jemals verfügt zu haben.

Maxim Gorkis „Nachtasyl“ ist über hundert Jahre alt. Kann man so ein Sujet unter Verzicht auf sträflich platten Sozialkitsch und Hartz-IV-Folklore tatsächlich in die Gegenwart holen? Man kann! Wie, das zeigt der Regisseur und Drehbuchautor Hardi Sturm mit seiner im Auftrag von ZDFtheaterkanal und Arte entstandenen Theaterfilm-Version, die heute Abend auf Arte auf Deutsch und Französisch erstausgestrahlt wird. Nicht nur, dass Sturm das seltene Kunststück gelungen ist, die bisweilen ermüdend epische Textvorlage ohne Substanzverlust zu straffen und die knapp zwanzigköpfige „Nachtasyl“-Belegschaft gleichermaßen geschickt zu verdichten: Sturm versucht sich erst gar nicht an Originalitätskrämpfen, sondern sucht – und findet – das Zeitgemäße in der Zeitlosigkeit.

Atmosphärische Dichte

Sein „Nachtasyl“ ist eine Studie über eine nicht nur materiell, sondern auch ideell auf weniger als das Lebensnotwendige zurückgeworfene Gemeinschaft schlechthin. Ein sozusagen exemplarischer Mikrokosmos, in dem die Erniedrigten und Beleidigten tatenlos zusehen, wie noch Erniedrigtere und Beleidigtere erbarmungslos aus der düsteren Hütte gejagt werden. In dem die zu Jähzorn und Eifersucht neigende Kellerloch-Vermieterin Walli (Esther Schweins) ihrer jüngeren Schwester Natascha (Marie Rönnebeck) kurzerhand eine Ladung kochendes Wasser ins Gesicht schütten kann, weil die ihr den Berufsdieb Pepe (Aleksandar Jovanovic) ausgespannt hat. In dem sich Gemeinschaften aus Not bilden und aus Not ebenso schnell wieder zerfallen; wo die Erbauungssprüche des symbolträchtigen Wanderers Luka (Hans-Peter Hallwachs) wie blanker Hohn wirken müssen und wo aus sportiven Ballspielen feindselige Prügeleien und aus feindseligen Prügeleien ekstatische Tanzpartys werden.

Dass Esther Schweins’ Mimik an den entscheidenden Stellen gern in einem allzu bedeutungsschwangeren Blick festfriert und die Liebesszenen zwischen Pepe und Natascha – neckische Haschereien zwischen Baumstämmen, wie man sie aus jedem zweiten Jugendfilm kennt – als Gegenentwurf zur Kellerloch-Tristesse etwas übereifrig romantisch geraten sind: geschenkt! Hardi Sturms atmosphärisch dichtes „Nachtasyl“ – gedreht auf dem kongenial zeit- und ortlos wirkenden Gelände des ehemaligen Militärflughafens in Neuhardenberg – gehört definitiv zu den Glücksfällen unter den Theaterfilmen. Denkt man an den jüngsten Erfolg von Leander Haußmanns „Kabale und Liebe“, scheinen der ZDFtheaterkanal und seine Kooperationspartner mit diesem Genre derzeit einen äußerst viel versprechenden Weg zu beschreiten.