Die Vögel kommen

In deutschen Hausarztpraxen wird auf Alarm geschaltet: Die Vogelgrippe ist im Anflug –und die medizinische Beratung nicht zu überhören. Bei aller Vorsicht: Panik ist nicht angebracht

VON JAN FEDDERSEN

Die Praxis ist wie jeden Tag schon kurz nach acht Uhr in der Früh geöffnet; das Wartezimmer füllt sich rasch. Dienstagmorgen im Berliner Armutsbezirk Neukölln. Dorothea Assenov, praktische Medizinerin hier seit vielen Jahren, ist keine Person, die zur Paranoia neigt. Selbst modische Sorgen – als vor Jahren nach einem Fernsehbericht alle Welt jeden Hautfleck gleich als Melanom, als bösartige Geschwulst, identifizierte, hauen sie nicht um. Sie wirkt mütterlich, sie hat einfach die Aura einer Ärztin, die sich um Grundsätzliches kümmert: Das kriegen wir hin, Blutdruck, Puls, Lungentöne, und alles nicht so schlimm.

An diesem Morgen ist irgendwie alles anders. Das Wartezimmer fiebert. Menschen, die gewöhnlich ihre gelben Arbeitsunfähigkeitszettel abholen, die um Krankschreibung für die Krankenkasse bitten, gucken nervös. Zu Boden. Aus dem Fenster hinaus. Kein Gespräch untereinander, konzentriertes Warten. Dorothea Assenov kommt – und löst unter ihren Patienten eine gewisse Erleichterung aus. Endlich ist sie da. Sie lässt einen nicht im Stich. In ihrem Behandlungszimmer erklärt sie, Patient für Patient, bis in den Nachmittag hinein, in einer Form der Ansprache, die als besorgter Wortschwall den Tag über haften bleibt, dass nun fast nichts mehr so sei wie vor einem halben Jahr. „Da war noch keine Vogelgrippe“, sagt sie, „da wussten wir, dass es mal so kommen würde, aber nicht wann.“

Und wie sie so redet, bleibt alles unverständlich. Nur ihr Ton signalisiert: Achtung, hinhören, ernst nehmen. Vokabeln bleiben erinnert übrig. Vogelgrippe. Asien. Influenza, spanische Epidemie. Pandemie. Nur noch eine Frage der Zeit. Nicht des Ob. Schützen Sie sich. Noch kein Impfstoff. Muss erst noch entwickelt werden. Wenn die ersten Krankheitsfälle bekannt sind. Alles ist offen. Man muss sich wappnen.

„Das ist ja eine höllische Infektion“, erklärt sie, „sie kann als Tröpfcheninfektion weitergetragen werden, das ist ganz leicht, das ist gefährlich für alle Menschen, die mit anderen Menschen zusammenleben, besonders für Menschen, die mit vielen zu tun haben. Wir werden in dieser Praxis bald mit Mundschutz arbeiten.“

Recherchen später ergeben, dass viele andere Menschen, Freunde, Bekannte, Nachbarn, just in diesen Tagen auf diese Gefahr hingewiesen wurden – die Verfolgungswahnsinnigen, die sowieso, aber auch die mit kühlem Kopf. Einer, immerhin, der Kioskbesitzer, der gern Geflügel isst, beteuert, er werde abwarten. Alle anderen bestätigen aus anderen Praxen, dass ihnen dort ähnliche Besorgnis begegnete. Überall wird gewarnt – mit Hinweis auf ähnliche Epidemien, jene vor 100 Jahren, bei der berühmten Spanischen Grippe, als 30 Millionen Menschen weltweit starben, doch auch in den Fünfzigern oder den Neunzigern.

Dorothea Assenov weiß wenigstens etwas Rat. Sie schreibt ein Rezept auf und sagt, sie rufe nun in einer bestimmten Apotheke an, denn es sei in Berlin ausverkauft, aber sie habe in einer bestimmten Apotheke eine Bekannte, die hinterlege gewiss ein Rezept. Und zwar eines für Tamiflu, so heißt das Medikament, das eine gewisse gute Hilfe bei einer Infektion biete. Roche heißt der Pharmakonzern, der es im Repertoire hat. Roche ist auf alle Fälle ein Gewinner der Vogelgrippengeschichte.

Keine gute Ärztin wäre sie, würde sie nicht erklären: Tamiflu müsse man nun wie ein Kondom mit sich tragen, immer einsatzbereit sozusagen. Es sorge, salopp gesprochen, dafür, dass das Virus in der Zelle mit einer Art Zange festgeschraubt wird. So konserviert, verschraubt und in Schach gehalten, könnten die Symptome in Schach gehalten werden. Der Impfstoff sei nicht entwickelt, solange die Epidemie noch nicht vom Tier auf den Menschen übertragen worden sei – aber Tamiflu könne lindern. Und die Indikatoren für den schlechtesten Fall?

Kondome nützen beim Sex als Taschenaccessoire stand-by – und dieses Mittel, das zehn Kapseln in der Schachtel enthält und als Kontraindikation „Übelkeit, Erbrechen und Magenschmerzen“ nennt? Wie erkennt man, von einer epidemischen Grippe mit tödlicher Potenz betroffen zu sein – reicht ein Gefühl von überbordender Müdigkeit, ein ungesunder Eindruck von körperlicher Liegebedürftigkeit, ein Wunsch, schüttelfrostig sich unter die Decke zu verkriechen? „Nein, keine falsche Panik, aber echte Sorge“, sagen alle Hausärzte, heißt es auch beim Robert-Koch-Institut, der obersten Infektions- und Epidemiebehörde der Republik. Gerade, bei aller Vorsicht, in puncto Selbstmedikationen müsse vor hysterischer Eile gewarnt werden – heißt es ja auch auf deren Website, die in den jüngsten Tagen zur ers- ten Informationsquelle des medizinischen Personals geworden ist.

Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO gibt zu bedenken, für eine hysterisch aufgeladene Panik gebe es keinen Anlass. Noch sei kein Mensch, auch nicht in Asien, zu Schaden gekommen durch das, was global als Vogelgrippe bekannt wird. Doch wer anlasslos beispielsweise Tamiflu nehme, der züchte nur Resistenzen – und sei machtlos, wenn wirklich eine Infektion zu bannen ist. Dorothea Assenov skizziert, die befürchtete neue Pandemie zeige sich in mächtiger körperlicher Schlappheit, in hohem, schweißarmem Fieber von 40 Grad, das mit einem Gefühl chronischer Erschöpfung beginne – wobei die Anzeichen einer klassischen Erkältung, die laufende Nase, fehlten.

In der Apotheke, in dem Fall jenes Patienten, dessen Ärztin über gute Kontakte zum Pharmawesen verfügt, eine DreiviertelStunde mit der U-Bahn entfernt, liegt alles parat. Das Rezept ist gültig, die Kasse funktioniert. 33 Euro rund. Ein Schock. Wieso nicht nur Rezeptgebühr? Fünf Euro, wäre das nicht teuer genug? Man wird belehrt. Tamiflu, ein kleiner Pappkarton mit hartkapseligen Tabletten, sei zwar verschreibungspflichtig, freilich voll zu bezahlen, wenn man es vor einer Erkrankung erwirbt. Aber: „Hat die Epidemie Sie erst mal erwischt, ist nur eine Rezeptgebühr fällig. Falls Sie am Leben bleiben.“ Das immerhin war wirklich beruhigend.