Saustall des Ostens

Kühe, Karpaten und Kotztüten: Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk ist unterwegs im dunkelsten Europa

Die Weinbrandfabrik auf dem 5-Rubel-Schein, das ist der Stolz der Nation

Hidasnémeti, Comrat, Soroca, Sfintu Gheorge. Die Orte, die der Schriftsteller Andrzej Stasiuk bereist, erscheinen unserem mitteleuropäisch geprägten Bewusstsein ebenso fern, ebenso exotisch wie Inseln in der Karibischen See. Und doch ist es Europa, nicht weiter von Berlin entfernt als Lissabon oder Athen. „Ich zähle die Stempel im Pass. Hundertsiebenundsechzig in etwa sieben Jahren, aber eigentlich müssten es noch mehr sein, denn manche Lahmärsche waren einfach zu faul, einen Finger zu rühren.“ Geradezu manisch tingelt der polnische Autor (der sich 1986 von Warschau in die unzugänglichen Beskiden zurückgezogen hat) durch den „ewig unfertigen Saustall des Ostens“, durch Ungarn, Rumänien, Moldawien und Albanien.

Die kleinen, scheinbar unbedeutenden Käffer im Hinterland sind es, die ihn zumeist interessieren; dort sitzt der Dichter mit Vorliebe in der Dorfkneipe – kaum eine einzige Seite in diesem Buch, auf der nicht irgendein alkoholisches Getränk konsumiert wird: Bier zumeist, auch Wodka oder Weinbrand – und sieht genau hin mit seinem für das Detail geschulten Blick. Das Ergebnis sind diese glänzenden literarischen Reportagen, in deren besten Momenten Vergangenheit und Gegenwart zusammenströmen und einen Ausblick auf die Zukunft geben, auf das, was uns in Europa noch erwartet.

„Angst“, so heißt der Eröffnungstext, der von der Motivation für das Getriebensein erzählt. Es ist die Angst vor dem Verschwinden all dessen, was hier beschrieben wird. Der Kuhherden in den Karpaten, die die Straße mit ihrem Kot und Urin in Rutschbahnen verwandeln (solange er „dieses scharfe, klatschende Geräusch“ noch höre, schreibt Stasiuk, sei nicht alles verloren). Oder der slowakischen Landschläfrigkeit, in der das Fleisch der frisch geschlachteten Schweine zum Ausbluten an den Drahtzäunen hängt: „Alles lief ab wie vor tausend Jahren. Nichts hat sich verändert.“

Stasiuks Reiseprosa ist gesättigt von solchen sinnlichen Erfahrungen; die Haptik ist eine zentrale Erfahrung des Unterwegsseins, die Beschaffenheit der Geldscheine und Münzen, das Holz des Tresens. Doch haben Stasiuks Dingpoesie und seine Poetik des Unterwegsseins (die im letzten Text, der Titelgeschichte, ausgeführt wird) zwar durchaus einen antizivilisatorischen und antiwestlichen Affekt, aber beileibe nicht den süßlichen Geruch des Kitschs.

Rettung wartet hier nirgendwo, im Gegenteil. Die beiden beeindruckendsten dieser ohnehin insgesamt herausstechenden Reisefeuilletons führen in wahrhaft düstere Zonen. „Welcome in my bloody country“, sagt der Mann auf dem Hauptplatz von Tirana. Nach einigen Tagen in Albanien, Busfahrten in beängstigend verkehrsunsicheren Gefährten („Als wir die ersten Serpentinen nahmen, begriff ich, wozu die Plastikbeutel gut waren“), notiert Stasiuk: „Albanien, dieses europäische Es, das ist die Angst, die nachts das schlafende Paris, London und Frankfurt am Main heimsucht. Das ist der dunkle Brunnen, in dessen Tiefe diejenigen schauen sollten, die meinen, der Lauf der Dinge stehe ein für allemal fest.“

Bei anderer Gelegenheit, in Moldawien, wird die gesamte Bandbreite von Möglichkeiten, all die Zerrissenheit und Kontingenz der alten Sowjetrepubliken deutlich: In Chisinau, der Hauptstadt, breitet sich die neue moldawische Mittelschicht aus, „eine Mischung aus Devisenschieber, Zuhälter und Latin Lover“, dazu die krampfhaften Versuche, große, weite Welt zu sein, immer wieder Gangsta-Attitüden und Nutten-Make-up. Und am Rande dieses Landes, das, so die Legende, Gott dem Garten Eden nachempfunden habe – Transnistrien, ein Staat, den niemand offiziell anerkennt, 200 Kilometer lang, an der breitesten Stelle 30 Kilometer breit – „ein Gespensterstaat“, der sich 1992 für unabhängig erklärt hat. Er ist nach wie vor eines der größten Waffendepots Europas, weil von hier aus eine mögliche sowjetische Invasion in Griechenland hätte erfolgen können, regiert von einem Haufen Apparatschiks und einer dubiosen Firma namens Sheriff. Auf dem transnistrischen 5-Rubel-Schein: ein dreistöckiger Sechzigerjahre-Häuserblock. Das ist die örtliche Weinbrandfabrik, der Stolz der Nation. Das ist Europa. Das kommt auf uns zu. Und es ist eine Wirklichkeit, die genauso gut Fiktion sein könnte.

Auch diese Wirklichkeit am Rande des Unwirklichen ist es, die Stasiuk antreibt, „die Abgründe des Unbekannten“, die „unendlichen Weiten der Vermutungen, der fliehende Horizont der Vorstellungen und die Fata Morgana süßer Vorurteile“. Das langsam im Donaudelta versinkende Dorf wie der über seine arische Herkunft sinnierende Zigeuner, der anschließend im BMW X5 davonfährt. Stasiuk lesen heißt, das Bewusstsein zu erweitern. Und gleichzeitig von einer Prosa von seltener Klarheit, Härte und Schönheit gefangen zu sein. CHRISTOPH SCHRÖDER

Andrzej Stasiuk: „Unterwegs nach Babadag“. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005, 304 Seiten, 22,90 €