Fettvettels Liebling

Die Stasi, die Zeit und die Unmöglichkeit, zu vergessen: Kathrin Schmidts Roman „Seebachs schwarze Katzen“

Kathrin Schmidts Sprache strotzt vor Körperlichkeit, Magie und hohen Tönen

Bert Willer war ein „Romeo“. Er hatte zwei Wohnungen, zwei Frauen, zwei Leben – eines in Berlin, das andere in Jena –, und für jedes ein eigenes Eau de Toilette. Das eine, private, hatte er sich selbst gekauft. Das andere war ihm von seinem Führungsoffizier bei der Stasi ausgesucht worden. Ein Hauch von Macho, passend zu dem Typ Mann, den er zu verkörpern hatte. „Romeo“ Willer pendelte zwischen den Existenzen wie andere morgens zur Arbeit, ließ seine Frau Lou und den Sohn in Berlin zurück, um mit Bejla in Jena zu schlafen und anschließend Berichte über das „feindlich-negative Element“ zu verfassen, dem er eben noch Liebe versprochen hatte. Manchmal reiste er auch in den Westen, dort hießen die Frauen Ruth, Marja oder Kathrin. Seine einzige Angst: nach anstrengenden Tagen nicht mehr wie gefordert zu „können“ und das Misstrauen seiner Zielobjekte zu erwecken.

Wenn man nicht wüsste, dass es solche wie Bert Willer wirklich gegeben hat, könnte man Kathrin Schmidts Hauptfigur für eine ziemlich gewagte Erfindung halten. Doch die „Romeos“ waren nicht nur eine der perfidesten, sondern auch effektivsten Erfindungen des Stasi-Chefs Markus Wolf. Etwa vierzig von ihnen wurden während des Kalten Krieges im Westen enttarnt. Doch wie viele ihrer Art im Namen der Staatssicherheit tatsächlich im Einsatz waren, ist bis heute nicht geklärt.

Das Entsetzliche an der Vorstellung solcher Scheinbiografien ist vor allem die existenzielle Lüge, die dahinter steckt und die Kathrin Schmidt zum Ausgangspunkt ihres neuen Romans gemacht hat. Denn „Romeo“ Bert Willer, nach 1989 frohgemut in einen neuen geschichtlichen Abschnitt marschiert, hat Leben auf dem Gewissen. Mehr als eines – und das holt ihn irgendwann ein. Gut sechzehn Jahre nach der Wende schickt die Zeit sich an, ihn doch noch unterzukriegen. Es beginnt mit einer Urlaubsreise, die Willer – inzwischen Mitte vierzig – mit seinem halbwüchsigen Sohn David zu unternehmen gedenkt. Auf Teneriffa, so hofft er, soll sich die Entfernung, die nach dem Tod seiner Frau zwischen ihm und David klafft, verringern.

Doch kurz vor der Abreise stößt David in den Papieren seines Vaters auf Hinweise auf dessen frühere Stasi-Aktivitäten. Zutiefst verstört tritt er die Reise an, nicht ahnend, dass auch sein Vater immer häufiger mit jähen Bildern der Vergangenheit zu kämpfen hat. Bilder, die Bert Willer auf einmal nicht mehr erträgt, ohne dass er selbst verstünde, warum. Die ganze Seelendressur dieses Mannes scheint plötzlich dahin zu sein. Er leistet sich Fehltritte, redet, wird sentimental. „Romeo“ Willer zieht es an den Tatort zurück, und bald nach seiner Rückkehr nach Berlin macht er sich auf, Bejla zu suchen.

Schritt für Schritt weitet Kathrin Schmidt den Raum ihrer Erzählung aus, zieht scheinbar zufällige Urlaubsbekanntschaften in die Geschichte hinein, eine herrenlose Hündin, ein Ehepaar in Südwestdeutschland, das merkwürdig zurückgezogen lebt. So entsteht ein Netzwerk aus Perspektiven, ähnlich der Struktur, die die Autorin bereits in ihrem vorangegangenen Roman „Koenigs Kinder“ konstruiert hat.

Als zentrales Moment fungiert in „Seebachs schwarze Katzen“ jedoch diesmal nicht die Liebe, sondern die Zeit, die – von Schmidt als „Fettvettel“ apostrophiert – als einigermaßen hässliche Alte durch die Handlung zieht und sich ein Vergnügen daraus macht, den fragwürdigen Helden mit Vergessenem und Verdrängtem wie mit Dreck zu bewerfen.

Das ist wieder jener – etwas kantig geratene – magische Realismus, der die Romane der aus Gotha stammenden Lyrikerin und Schriftstellerin Schmidt von Anfang an ausgezeichnet hat und der einem in der deutschen Literatur in dieser Form sonst nicht begegnet. Ihm gesellt sich eine Sprache zu, die vor Körperlichkeit strotzt. Beide, die Magie wie auch der hohe Ton, üben fraglos einen Reiz aus. Dennoch hat man mitunter den Eindruck, dass Schmidt mit einem Zuviel an Stil ihrer eigenen Geschichte die Show stiehlt. Etwas weniger Symbolismus stünde dem Roman gut an. Und vielleicht hätte Schmidt stärker auf die Kraft jener unerhörten Begebenheit vertrauen können, von der sie erzählt, auf deren psychologische wie politische Brisanz.

Denn letztlich war das Unwesen, das die „Romeos“ trieben, nur ein Teil jener perfiden Struktur aus Verrat und „Zersetzung“, mit der die DDR ihre eigenen Bürger aufeinander ansetzte. Schmidts Thema greift somit viel weiter und berührt die gesamte (ost)deutsche Vergangenheit an einem Punkt, der noch längst nicht in seinem ganzen Ausmaß thematisiert, geschweige denn bewältigt ist. Auch bei Bert Willer bleibt offen, wie es um Erkenntnis und Einsicht steht. Und fraglich, ob Erlösung überhaupt denkbar wäre. Zufrieden ist in dieser Geschichte am Ende allein die Zeit, „die sie alle wiederhatte“. SILJA UKENA

Kathrin Schmidt: „Seebachs schwarze Katzen“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005, 286 Seiten, 18,90 €