Der Weltgeist ist nur kurz zu Gast

Ein Tag, der so harmonisch beginnt, dass ausgerechnet Otto Schily alle zum Lachen bringt, endet mit einem Denkzettel für Lothar Bisky und die Linkspartei

AUS BERLIN JENS KÖNIG

Als Norbert Lammert um 17.50 Uhr die Zahl 258 nennt, entgleisen bei den Genossen von der Linkspartei die Gesichtszüge. Oskar Lafontaine, Gregor Gysi, Lothar Bisky, Dagmar Enkelmann – alle gucken sie, als hätte ihre Partei gerade die Fünfprozenthürde verfehlt. Dabei sagt diese Zahl 258 nur noch einmal, wenn auch auf sehr verquere Weise, dass die Linkspartei bei der Bundestagswahl ein für alle überraschend gutes Ergebnis erzielt hat. Dafür bekommt sie jetzt die erste Quittung.

258 Nein-Stimmen für Lothar Bisky – das, was der frisch gewählte Bundestagspräsident Norbert Lammert da verkündet, bedeutet für den honorigen Vorsitzenden der Linkspartei.PDS einen herben Schlag. Dreimal hat sich Bisky der Wahl zum Bundestagsvizepräsidenten gestellt, dreimal ist er durchgefallen. Ihm stehen Tränen in den Augen. Noch am Morgen hatte Bisky, der Filmwissenschaftler, der Politiker wider Willen, verkündet, dass es ihn eigentlich nie in den Bundestag gedrängt habe und er gar nicht wisse, wie ihm geschehe, wo er doch heute gleich zum Vizepräsidenten dieses hohen Hauses gewählt werden solle. Jetzt weiß er wieder, warum er nicht hierher wollte. Weil es um Macht und Symbolik, also um große Politik geht, in der die Beteiligten manchmal dafür büßen müssen, dass sie einer bestimmten Partei angehören. Der Linkspartei zum Beispiel. Der PDS. Der SED-Nachfolgepartei. Deswegen ist der über Parteigrenzen hinweg geachtete Bisky dreimal gedemütigt worden.

Diese Ende passte so gar nicht zu einem Tag, der voller Harmonie begonnen hatte. Otto Schily war dafür verantwortlich. Ausgerechnet Schily, dem man nicht zu nahe tritt, wenn man ihn als Grökotz tituliert, als größten Kotzbrocken zwischen Kanzleramt und Reichstag. Dieser Schily also, der härteste aller harten Innenminister, brachte den versammelten Bundestag mit einer würdevollen, geradezu milden Rede zum – Lachen. Schily als Mensch, das haben sie im Parlament selten erleben dürfen. Diese Verwandlung ist am besten damit zu erklären, dass das gesamte politische Berlin seit Wochen in einem Zwischenreich lebt: Die alte Regierung ist quasi abgewählt, die neue aber noch nicht im Amt. In diesem Zwischenreich ist der 16. Deutsche Bundestag aufgerufen, sich zu konstituieren, und erforderlich dafür ist laut Protokoll ein Alterspräsident.

Dieses protokollarische Hochamt hat an diesem Tag ausgerechnet Otto Schily inne, geboren am 20. Juli 1932. „Darf ich fragen, ob ein Mitglied in diesem hohen Hause sitzt, das mich an Alter übertrifft?“ Schon Schilys Eröffnung ist von unübertroffener Eleganz. Als er sich dann noch eine „private, aber strikt überparteiliche Bemerkung“ erlaubt und seinen Bruder Konrad von der FDP begrüßt, „ein Nachwuchstalent, das im jugendlichen Alter von 67 Jahren eine hoffnungsvolle politische Karriere beginnt“, hat Otto Schily ausnahmsweise alle Abgeordneten auf seiner Seite. In dieser für ihn „ungewohnten Herzlichkeit“, wie er selbst einräumt, hält der scheidende Minister dann auch seine Eröffnungsrede. Er ruft die unbequeme Wahrheit in Erinnerung, dass in einer Demokratie Macht nur auf Zeit verliehen wird, und zitiert Goethe: „Glücklicherweise bleibt uns zuletzt die Überzeugung, dass gar vieles nebeneinander bestehen kann und muss, was sich gerne wechselseitig verdrängen möchte: der Weltgeist ist toleranter, als man denkt.“

Dieser tolerante Weltgeist hat sich an diesem Tag offenbar für ein paar Stunden im Plenarsaal des Reichstages niedergelassen. Man traut seinen Augen kaum, was sich dort in den langen Pausen zwischen den Abstimmungen über den Bundestagspräsidenten und seine Stellvertreter abspielt. Alle stehen sie einträchtig beieinander, die Grünen, die Gelben, die Schwarzen, die Roten und die ganz Roten von der Linkspartei. Fischer plaudert mit Merkel, Westerwelle mit Gysi, Müntefering mit Glos.

Aber als Oskar Lafontaine an der ersten Stuhlreihe der SPD-Fraktion vorbeiläuft und seinen alten Rivalen Gerhard Schröder mit einem kurzen Nicken begrüßt, dieser jedoch nicht einmal mit dem Zucken einer Augenbraue antwortet, wird einem sofort wieder bewusst, dass die ganze Harmonie hier nur gespielt ist. Überhaupt Lafontaine. Seine Rückkehr in den Bundestag nach sechs Jahren Daseins als politischer Outlaw zählt zu den bemerkenswertesten Ereignissen dieses Tages. Lafontaine tut die ganze Zeit zwar so, als berühre ihn dieses Comeback nicht im Geringsten, aber ihm ist anzumerken, dass er auf den Moment lange gewartet hat. Vorhin im Fahrstuhl hat er Hans Eichel, einst sein Nachfolger im Finanzministerium, ganz freundlich und mit Handschlag begrüßt. „Grüß dich, Hans“, hat er gesagt und den Hans sofort in ein finanzpolitisches Fachgespräch verwickelt. Plötzlich erblickte er Heidemarie Wieczorek-Zeul, die rote Heidi, seine alte Gefährtin. „Heidemarie“, rief Lafontaine fröhlich, „dass ich dich hier noch mal treffe.“ Heidemarie guckte ganz gequält.

Lafontaine ist die Figur, die alle in die raue Wirklichkeit zurückholt. Er erinnert daran, dass seine Partei für sich in Anspruch nimmt, politisch anders als alle anderen Parteien zu sein. Lothar Bisky bekommt das später zu spüren.