Demonstranten stürmen Grüne Zone Bagdads

IRAK Die politische Krise des Landes verschärft sich, zunehmend begleitet von chaotischen Verhältnissen. Das Parlament und die Regierung sind gelähmt

Schiitische Demonstranten am Samstag im Parlamentsgebäude Foto: Ahmed Saad/reuters

Von Inga Rogg

ISTANBUL taz | „Demokratie ist chaotisch.“ Das ist einer der Lieblingssätze der Amerikaner, wenn sie auf das politische System im Irak angesprochen werden. Dieses System, dessen Geburtshelfer sie vor 13 Jahren waren, droht nun komplett zu kollabieren. Tausende wütender Demonstranten stürmten am Samstag die hermetisch abgeriegelte Grüne Zone, das Zentrum der Macht in Bagdad. Mit Bolzenschneidern durchtrennten sie Stacheldraht, brachten Kabel an den hohen Sprengschutzwänden an und stürzten sie um. Die Sicherheitskräfte ließen sie gewähren. Dann stürmten die Demonstranten das Parlamentsgebäude und nahmen den Plenarsaal in Beschlag.

Abgeordnete flohen in Panik, andere suchten im Erdgeschoss Zuflucht, wo sie stundenlang festsaßen. Derweil spotteten die meist jungen Männer im Plenarsaal über die Abgeordneten und schossen Selfies. „Wir regieren dieses Land jetzt“, sagte einer. „Die Zeit der Korrupten ist vorbei.“ In sozialen Medien tauchten Bilder und Videos auf, die zeigten, wie sich zahlreiche Männer dafür einsetzten, dass der Protest friedlich verläuft und nichts beschädigt wird.

Das sahen nicht alle so. Mindestens ein Abgeordneter wurde von Demonstranten angegriffen, ein Mob warf Steine auf ein Fahrzeug, andere demolierten Mobiliar. Zwar zogen die Demonstranten Samstagnacht aus dem Parlament ab, doch Tausende besetzten am Sonntag weiterhin einen Platz innerhalb der Grünen Zone, der nicht weit von der riesigen US-Botschaft entfernt liegt.

Der irakische Ministerpräsident Haider al-Abadi ordnete am Sonntag die Verhaftung der Randalierer an. Wie er das durchsetzen will, ist freilich ein Rätsel. Nicht alle, aber die übergroße Mehrheit der Demonstranten sind Anhänger des schiitischen Geistlichen Moktada al-Sadr. Einen faktischen Staatsstreich nannte das amerikanische „Institute for the Study of War“ den Sturm auf das Regierungsviertel. Außer der Regierung und dem Parlament haben hier auch zahlreiche Botschaften und eine UNO-Vertretung ihren Sitz.

Sadr, dessen Milizionäre in der Vergangenheit gegen die USA kämpften und die maßgeblich am Blutvergießen zwischen Schiiten und Sunniten vor einem Jahrzehnt beteiligt waren, gibt sich seit geraumer Zeit moderat. Er hat sich als eine Art Robin Hood an die Spitze der seit einem Jahr andauernden Proteste gegen die grassierende Korruption und die ethnisch-religiöse Quotenregelung bei der Besetzung von Regierungsposten gestellt. Vorderhand steht er damit hinter den Reformbemühungen von Regierungschef Abadi, ebenfalls ein Schiit.

Die protestierenden Anhänger des Geistlichen al-Sadr wollen ihren Anteil am politischen Kuchen

Abadi will dem Proporz ebenfalls ein Ende bereiten und eine Expertenregierung bilden. Von fünf Ministern abgesehen, denen das Parlament vergangene Woche zustimmte, scheiterte Abadi bisher am Widerstand der Fraktionen von Schiiten, Sunniten und Kurden. Eine weitere Abstimmung kam am Samstagmorgen nicht zustande, weil nicht genügend Abgeordnete zur Sitzung erschienen. Entgegen seiner populistischen Reden hat Sadr daran durchausseinen Anteil. Er fordert, dass die gesamte Regierung, also auch der Präsident und seine Stellvertreter sowie das Parlamentspräsidium, ausgewechselt werden müssten. Darüber hinaus schwächen die Proteste Abadi.

Dabei sind die Extremisten des „Islamischen Staates“ (IS) noch nicht besiegt. Sie bekannten sich am Wochenende zu drei Anschlägen auf schiitische Pilger im Irak. Am Samstag wurden in der Hauptstadt mehr als 20 Personen getötet, am Sonntag rissen zwei Selbstmordattentäter im südirakischen Samawa mindestens elf Menschen in den Tod. Der Kampf gegen den IS gehe weiter, erklärte Colonel Steve Warren, Sprecher des US-Militärs in Bagdad, am Samstag. Die Frage ist freilich, wie die Sicherheitskräfte dem politischen Chaos entgehen können.

„Heute hat das Volk seine Revolution ausgerufen“, sagte Sadr am Samstag. „Das ist der Beginn eines neuen Irak, der aus der Asche der Korrupten und der Korruption entstehen wird.“ Seine Gefolgsleute, die ebenfalls in der Regierung sitzen, sind jedoch nicht weniger korrupt. Vor allem wollen sie genauso ihren Anteil am politischen Kuchen wie die Vertreter von Sunniten und Kurden oder der mächtigen schiitischen Milizen, die mit Waffen bereitstehen.