JOSEF WINKLER über ZEITSCHLEIFE
: Der Hauch der Unendlichkeit

In Hannover nachts um halb eins ist Zeit so relativ wie nur grad was

Wenn man im Rockgeschäft tätig ist, tagein, tagaus hierhin, dorthin in Jet und Tram, muss man einfach ab und zu etwas Tempo rausnehmen. Sonst flippt man ja aus. Und wenn’s der Körper nicht kriegt, dann holt er’s sich. Mein Körper hat es sich letztens geholt, recht clever hat er das eingefädelt: einfach das Gehirn abgestellt oder in ein Gespräch verwickelt oder was. Jedenfalls fand ich mich für einen Weiterflug nach Berlin des Abends am Flughafen London-Gatwick ein, wo doch hierfür – wie ich nun mit einem kundigen Blick auf meinen Flugplan feststellte – Heathrow ungleich geeigneter gewesen wäre. Nach einer kleinen dramatischen Szene (ich bäumte mich auf), begann ich – weitere kleine Szenen liefernd – diverse British- Airways-Schalter abzuklappern. Um mich noch heute Abend außer Landes zu bringen (und ich meine, ein dahingehendes persönliches Interesse des braven BA-Angestellten wahrgenommen zu haben), könne man mir eine Umbuchung nach Hannover anbieten. Dort würde ich spät ankommen, könnte aber – das war meine Idee, und ich schätze, sie war im Sinne des Slow-Travel-Gedankens – den ersten Morgenzug nach Berlin nehmen. Dazu müsste ich mir sechs Stunden in Hannover um die Ohren hauen.

Sechs Stunden. In Hannover. Die konnten ja unmöglich so lange dauern wie anderthalb Stunden am Flughafen Gatwick. Ich saß da und aß Walker’s Chips mit „Slow Roasted Lamb With Mint“-Geschmack. Wie die die machen? Die braten gaaanz laaangsam ein Schaf und tun Minze dazu und dampfen das auf diese Kartoffelchips auf. Ich ließ mir das auf der Zunge zergehen. So langsam gebraten und schmeckte trotzdem schlimm, das konnte nicht im Sinne des Erfinders sein.

Endlich, dann: Hannover. Stadt des Lichts und einer Fifa-Werbetafel vor dem Bahnhof mit einer jubelnden LED-Anzeige: „Nur noch 244 Tage!“ Ein Schauer überkroch mich beim Hinaustreten in die mitternächtlich mausetot daliegende Innenstadt. Ich hatte in der Bahnhofsbuchhandlung „A Short History Of Nearly Everything“ von Bill Bryson gekauft und bei Currywurst und warmem Beck’s von „Curry-Paul“ reingelesen. Vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte des Universums sowie der Schwere meiner Beine schienen 244 Tage und sechs Stunden plötzlich wie eins.

Ich stakste los in die Ewigkeit. Der erste Schwung endete an einer Park- vor der Deutschen Bundesbank. Die Bundesbank brummte und summte aus tiefen Lüftungsschächten wie ein Ligeti-Stück, der Hauch der Unendlichkeit ließ mich in einen unruhigen Halbschlaf sinken. Zwei Stunden? 18 Tage? 20 Minuten. Ausgekühlt schlurfte ich weiter, am Werbeplakat eines Radiosenders vorbei: „Yesterday war gestern“. Das sollte heißen, dass der Sender fortan nur noch treibende, junge „Popmusik“ (wie es auf einem anderen Plakat hieß) zu spielen gedachte, nicht mehr den Großvatischund aus dem letzten Jahrhundert, und dass er sich dafür sehr modern vorkam. Ich überlegte, ob es meine Mission für diese Nacht sein konnte, hinzufahren und denen die Bude anzuzünden. Dann sang mir mein MP3-Spieler „Yesterday“ vor, dreimal, dazu noch den Rest von „Help“, und es ging wieder.

Ich selbst ging nun in eine Kneipe hinein, die den Anschein einer 24-Stunden-Oase machte. Eine Zeitblase. Auf Großleinwand und gottlob Kleinlautstärke liefen Popvideos aus den 80er Jahren. Wet Wet Wet. „Crockett’s Theme“. Darryl Hall! Ich nuckelte dazu an Pilsen herum und blickte mit hohlem Grauen in den Abgrund eines Paares um die 40, das da reglos am Nebentisch vor seinen Getränken saß und sich die gesamte Zeit über keines Blickes und schon gar keines Wortes würdigte. Wie lange bei denen wohl sechs Stunden dauerten? Oder 244 Tage? Zeit und Wahrnehmung verschwammen nunmehr. Eine weitere Currywurstgabe bewahrte mich vor dem endgültigen Einnicken und verlieh mir ausreichend Schub, mich zum Bahnhof zurückzuschleppen. Mein Zug war der bequemste, in dem ich je saß und – das fand ich bemerkenswert – legte die Strecke Hannover–Berlin in 27 Sekunden zurück. Von denen ich nichts weiß.

Fotohinweis: JOSEF WINKLER ZEITSCHLEIFE Fragen zu Slow-Travel? kolumne@taz.de MORGEN: Robin Alexander SCHICKSAL