Manchmal reicht eine einfache Tür, um die Käseglocke der Vorstadt zu verlassen
: Der 80er-Ausweg

Foto: privat

AM RAND

Klaus Irler

In Niendorf-Nord gibt es eine Fußgängerzone, Bäcker, Apotheke, Friseur, was man so braucht für ein autarkes Leben am Rand der Stadt. Der offizielle Ausweg aus der Käseglocke ist die U-Bahn, die alle zehn Minuten fährt. Am Freitag habe ich noch ein zweites Loch in der Käseglocke entdeckt. Es ist getarnt als Tür. Die Tür zu einer Kneipe namens „Horizont“.

Links vor mir ist der Tresen, Gelsenkirchener Barock, gedämpftes Licht. Rechts an der Wand mehrere Sitzbuchten in Vollholz-Optik. Hinten Dartscheibe und Spielautomat. Über den Raum verteilt drei Fernseher. Es läuft das Spiel St. Pauli gegen Düsseldorf, ohne Ton. Es ist 20.15 Uhr.

Die Kneipe ist voll, zirka sechzig Leute trinken Herrengedeck, schauen auf die Bildschirme und rauchen. Die Leute, soviel ist klar, sitzen schon länger hier. Nur wie lange? Seit heute Mittag? Seit letztem Wochenende? Alles möglich

Das Gefühl, der Zeit enthoben zu sein, kommt im Horizont auch von der Konzentration des Zigarettenrauches in der Luft. Im Horizont stellst Du sofort auf Kurzatmung um. Du schaust, ob irgendjemand nicht raucht, und siehst niemanden. Du suchst Hinweise auf eine Lüftung und findest keine. Das Horizont ist ein großes „Leckt-uns-am-Arsch“ in einer Zeit, in der das Rauchen geächtet ist.

Neben mir sitzt Herbert, er ist Mitte 60 und hat drei gleich alte Damen bei sich: rot gefärbte Haare, engagiert geschminkt. Herbert hat eine HSV-Raute auf dem Sweatshirt und sagt zu mir: „Wir brauchen heute jeden Mann.“ Um 20.30 Uhr ist Anstoß der Partie HSV gegen Werder Bremen. Der Ton wird laut gestellt.

Am Tresen sitzen drei 25-jährige Dorfpunks. Der Typ trägt eine Lederjacke mit einem selbst gemalten Twisted-Sister-Konterfei, das ist eine Hair-Metal-Band aus den frühen 80ern. Auf der Lederjacke des Mädchens steht „Drink – Fight – Fuck“. Einer der Dorfpunks sagt: „Fußball interessiert mich nicht. Die sind doch alle überbezahlt.“

Mein Bier bestelle ich am Tresen, die Tresenfrau stellt sich mit Handschlag vor und macht einen Zettel fürs Anschreiben-Lassen. „Klaus mit ‚C‘ oder mit ‚K‘?“, fragt sie. Das hat mich seit Jahren niemand mehr gefragt. Im Horizont werden die Gästen mit Sorgfalt behandelt.

Links in der Ecke schreit jemand bei jedem Angriff „Attackäää!“ Der 45-Jährige dahinter geht bei jedem HSV-Tor in die Knie und brüllt so laut er kann: „Jaaa!“ Die Damen, die bei Herbert sitzen, kichern. Sie kichern auch, als zwei dicke 35-jährige Baseballkappenträger singend durch den Raum schwanken: „Alle Bremer stinken / weil sie aus der Weser trinken.“

In der Pause gehen die Damen von Herbert vor die Tür, sie brauchen doch Luft, um nicht aus den Latschen zu kippen. Ich halte auch nicht bis zum Schluss durch. Fast eineinhalb Stunden war ich in einer Dorfkneipe der 1980er-Jahre. Nun gehe ich durch die Tür zurück ins 21. Jahrhundert. Und atme tief durch.