EUROPA LEAGUE In einer wilden, irren Partie dreht der FC Liverpool im Stile einer typischen Jürgen-Klopp-Mannschaft gegen Borussia Dortmund das Spiel und zieht ins Halbfinale ein
: Das Wirken magischer Kräfte

Dortmunder Horrorszenario: Der kroatische Innenverteidiger Dejan Lovren trifft in der Nachspielzeit per Kopf zum entscheidenden 4:3 für Liverpool Foto: reuters

Aus Liverpool Daniel Theweleit

Auch weit gereiste Experten waren sich einig, dass sie solch eine konstruktive Zuschauer­wucht, wie in der zweiten Halbzeit noch in keinem europäi­schen Fußballtempel erlebt haben. Weder im Bernabeu in Madrid noch im Mailänder San Siro, ja nicht einmal im Dortmunder Westfalenstadion. Und als Dejan Lovren in der Nachspielzeit den für das Liverpooler Glück noch fehlenden Treffer köpfte, entstand ein Moment, den keiner der Beteiligten jemals vergessen wird. Überall stürzten jubelnde Menschen übereinander, die berühmte Tribüne, die in den Ruhmesschriften des Weltfußballs unter dem Namen „The Kop“ firmiert, verwandelte sich in ein ekstatisches Schlachtengemälde, die Luft vibrierte. Der ganze Ort schien aus purer Emotion zu bestehen. Aus der wilden Euphorie der Roten und dem blanken Entsetzen der Schwarz-Gelben. Nur Jürgen Klopp, dieser Meister des entfesselten Jubelsturms, blieb ganz still.

Er habe darauf gewartet, dass „irgendjemand sagt, das Tor zählt nicht“, berichtete er später. Als hätte er gedacht, irgendeine Instanz der Vernunft müsse dafür sorgen, dass so viel Irrsinn nicht Realität werden kann. „Es ist nicht zu glauben, dass das wirklich auf diese Art passiert ist“, sagte Klopp, der einmal wieder ein Werk geschaffen hat, von dem die Menschen noch lange reden werden. Und zwar auch, weil die Geschichte dieser Fußballnacht so typisch war für diesen erstaunlichen Mann: wild, unberechenbar, wendungsreich, berauschend. Aber auch unvollkommen und unkontrolliert.

Die Bereitschaft, Pläne aufzugeben und einfach Energien wirken zu lassen, ist schon immer ein zentrales Merkmal der Klopp-Mannschaften und ein ganz altes Erfolgsgeheimnis dieses Trainers. Thomas Tuchels BVB dagegen wirkte wie schon im Hinspiel fußballerisch reifer und homogener, verlor angesichts der bebenden Kraft dieses Publikums, die in der letzten Viertelstunde kontinuierlich mächtiger wurde, aber irgendwann das Vertrauen in die eigenen Stärken. Das war in Tuchels Augen der Hauptgrund für diese denkwürdige Niederlage. „Alles hat sich lange perfekt angefühlt, aber irgendwann lag unser Fokus zu stark auf dem Verteidigen“, sagte er, und ähnlich sah es auch Weidenfeller: „Wenn es brenzlig wird, muss man weiter taktführend sein, wir haben aber einfach gehofft, dass die Zeit für uns spielt.“

Das war ein schlimmer Fehler, denn irgendwann hatte die Partie einen Zustand erreicht, wie es ihn immer wieder gibt im Fußball. Nach dem 3:3 durch Mamadou Sakho sei „eine Atmo­sphäre entstanden, wo alle irgendwie dachten: Heute soll es sein“, erzählte Tuchel. Eine magische Kraft, die nicht mehr aufzuhalten war, der Wahnsinn nahm seinen Lauf. Allerdings hätten die Dortmunder es niemals so weit kommen lassen dürfen.

Sie hatten ja früh 2:0 geführt, und nachdem Marco Reus nach einer Stunde zum 3:1 getroffen hatte, fühlten die Spieler aus dem Revier sich offenbar zu sicher. „Wenn du die Gefahr nicht früh genug riechst, dann bist du nicht auf dem Level“, sagte Tuchel. Diese Einsicht schmerzt vielleicht nicht so sehr wie der entscheidende Treffer in der Nachspielzeit. Aber sie ist von großer Bedeutung für die Zukunft. Klopp tastete sich in seinen ersten Jahren beim BVB mit seiner Mannschaft sehr behutsam an die internationalen Höhen heran, mit naiven Spielen, einer langen Lernphase und vielen Rückschlägen. Der 48-Jährige hat eine Menge erlebt, und im Duell der Trainer, das ja auch irgendwie stattgefunden hatte, profitierte er von seinem Erfahrungsvorsprung.

Das Dortmunder Team verlor auch ­angesichts der ­bebenden Kraft dieses Publikums irgendwann das Vertrauen in die eigenen Stärken

In jedem Fall fand Klopp in der Halbzeit die richtigen Worte. Er habe vom legendären Champions-League-Sieg seines Klubs aus dem Jahr 2005 gesprochen, als die Engländer zur Halbzeit 0:3 zurücklagen und am Ende doch den Pokal gewannen. Jürgen Klopp und der FC Liverpool haben an diesem Abend endgültig zueinander gefunden.

Was dieser Abend nun mit den Dortmundern anstellt, ist dagegen nur schwer zu prognostizieren, in jedem Fall tragen sie nun ein kleines Trauma mit sich herum. Das Team steht vor „einer Zeit, in der wir uns neu kennenlernen, es wird interessant sein, wie wir als Gruppe darauf reagieren“, sagte Tuchel und forderte, das Erlebnis „in ­Energie und Trotz“ umzuwandeln. Es wird interessant, ob das tatsächlich funktioniert.

Der FC Bayern entwickelte nach dem durch zwei Tore in der Nachspielzeit verlorenen Cham­pions-­League-Finale von 1999 eine eiserne Siegermentalität, der FC Schalke hingegen hat sich bis heute nicht vom Schock der in letzter Minute verlorenen Meisterschaft von 2001 erholt. Ganz so heftig traf es Borussia Dortmund nicht, es ging ja nur um ein Halbfinale, aber um eines, das sicher nicht nur im Gesicht von Roman Weidenfeller Spuren hinterlassen hat.