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Nachtschicht in der Kita

Betreuung Im Osten Deutschlands bleiben manche Kindertagesstätten rund umdie Uhr geöffnet. Ein hilfreiches Angebot für Schichtarbeiter und Alleinerziehende, loben Eltern und Politiker. Die 24-Stunden-Kita hat aber auch Kritiker

Erst lesen, dann schlafen. Noch bieten wenige Kindertagesstätten eine Betreuung über Nacht an Foto: Andreas Herzau/laif

von Thomas Gesterkamp

Schwedt in Brandenburg, eine Industriestadt an der Oder in der Nähe der polnischen Grenze. Bei den „Schnatterenten“ ist es nach 16 Uhr ruhig geworden. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Kitas im Land werden hier um diese Uhrzeit nicht nur Kinder abgeholt, sondern auch neue gebracht. Die von Doreen Haase zum Beispiel. Für die alleinerziehende Mutter beginnt in einer Stunde die Schicht im Callcenter. Sohn und Tochter wird sie deshalb erst am nächsten Morgen wiedersehen. Sie liebe ihre Kinder, sagt Haase. Sie jedoch mitten in der Nacht aus dem Schlaf zu reißen, das mache wenig Sinn.

Die 24-Stunden-Kita ist für viele Eltern, deren Arbeitszeiten außerhalb der klassischen Betreuungszeiten liegen, eine Erleichterung. Ohne das Angebot der „Schnatterenten“ müsste Haase ihre Kinder sonst teuer privat betreuen lassen. Einen anderen Job als im Callcenter findet sie nicht. Abendschichten oder Hartz IV, mehr gibt es in der strukturschwachen Region für sie nicht. Die nächtliche Kinderbetreuung ermöglicht ihr, einen gewissen Lebensstandard selbst zu erwirtschaften. Dennoch räumt die Mutter ein: Dass ihre Kinder woanders übernachteten, sei „nicht ideal“.

Auch die „Krümelkiste“ in Kirchdorf bei Hamburg bietet ungewöhnliche Öffnungszeiten an. „Wenn Bedarf besteht“, sagt Kitaleiterin Silvia Cihak, „können die Kinder aber auch hier schlafen.“ In der Praxis komme das jedoch eher selten vor. Viel wichtiger für die Eltern sei die Garantie, dass die Einrichtung nicht zu einer festen Uhrzeit komplett dicht macht.

Für Arne Bergmann zum Beispiel ist das eine große Beruhigung. Dem Lastwagenfahrer, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, kommt das 24-Stunden-Konzept der „Krümelkiste“ entgegen. Öfter gerät er auf der Autobahn in einen Stau. Die flexible Öffnungszeit der Kita ist sein Zeitpuffer. Wird es deutlich später als erwartet, kann der alleinerziehende Vater in Ruhe seine Tour beenden und danach entspannt sein Kind in Empfang nehmen. Gegen 21 Uhr, so Kitaleiterin Cihak, verließen aber in der Regel die letzten Kinder ihre Kita. Übernachtungen sind die große Ausnahme. Es gehe vor allem um die Ausweitung der Randzeiten.

Manche Eltern starten um sechs Uhr morgens ihre Schicht, andere wünschen sich eine größere Flexibilität unter Tags. Ein selbstständiger Projektarbeiter will in der Früh mehr Zeit mit seinem Kind verbringen, eine alleinerziehende Künstlerin abends mal auf eine Vernissage gehen. In die „Krümelkiste“ können Kinder auch erst um 11 oder 12 Uhr kommen.

Die flexiblen Öffnungszeiten bedeuten für die „Krümelkiste“ aber auch: Schichtdienste beim Personal und mehr Aufwand bei der Planung des Kitaprogramms. Ausflüge oder bestimmte Sportangebote fänden häufig vor dem Mittagessen statt, sagt Leiterin Silvia Cihak. Optimal für die Abläufe in der Kita sei die Rund-um-die-Uhr-Betreuung deshalb nicht.

Dass mehr und mehr Kitas flexiblere Öffnungszeiten anbieten, zeigt, wie sehr sich der Arbeitsalltag wandelt. Bestimmte Abend- und Nachtschichten bei der Polizei oder in Krankenhäusern sind seit jeher unvermeidbar. In vielen anderen Berufen wird die flexible Einsatzbereitschaft aber zunehmend eingefordert. Unter dem Motto „Twenty-four seven“ propagieren Unternehmensberater ein angeblich modernes Arbeitsprinzip: stets im Einsatz, 24 Stunden täglich, sieben Tage die Woche. Im Betrieb zu Hause und zu Hause online. Schon die übliche 40-Stunden-Woche plus Wegezeiten und freiwilliger Mehrarbeit ist für Familien ein ständiger Balanceakt – vor allem dann, wenn beide Elternteile eine volle Stelle haben. Ist es nun folgerichtig, dass sich Kitas den hochflexiblen Arbeitnehmern anpassen? Oder müsste nicht umgekehrt der Arbeitgeber familienfreundliche Stellen ermöglichen?

CDU dafür, Linke dagegen

Die Frage wird vor allem in den neuen Bundesländern kontrovers geführt – im Westen Deutschlands wurde das Vereinbarkeitsdilemma zwischen Job und Familie jahrzehntelang durch die strikte Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern gelöst. Im sozialistischen Osten jedoch sollten umfangreiche Angebote staatlicher Betreuung die gleichberechtigte Berufstätigkeit ermöglichen. Die Betreuungsquote ist deshalb im ehemaligen Osten des Landes heute doppelt so hoch wie im Westen. Ob sich die Kitas aber auch der veränderten Arbeitsrealität anpassen sollten, darüber gehen die Meinungen auseinander.

Wie in Rostock. Hier wollten Universität und Polizei eine Kita schaffen, die Tag und Nacht geöffnet hat. Als Vorbild dienten zwei Kitas in der Landeshauptstadt Schwerin, die eigens für SchichtarbeiterInnen im Krankenhaus eingerichtet worden sind. Der CDU-Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, Lorenz Caffier, unterstützte die neue Rostocker Kita. Überraschender Widerstand gegen das Vorhaben kam vom Rostocker Sozialsenator Steffen Bockhahn. Der Politiker der Linkspartei verwies nicht nur auf die unklare Finanzierung, sondern auch auf das Kindeswohl. Das Jugendamt hatte Bedenken angemeldet. Bockhahn blockierte den Antrag. So startete die Kita im Oktober 2015 zwar den Regelbetrieb ohne Betreuung über Nacht. Ob sie künftig angeboten wird, steht offen. Die Entscheidung über einen möglichen Betreuungsausbau wurde vertagt.

Ein linker Senator blockiert den Ausbau der Kitas, ein CDU-Minister fördert ihn? Eine seitenverkehrte Welt. Waren es doch überwiegend CDU und CSU, die gegen die „Fremdbetreuung“ wetterten und sich dabei mitunter auf das Grundgesetz beriefen – während SPD, Grüne und Linke den Ausbau der öffentlichen Einrichtungen unterstützten. Die Kinder zu pflegen und zu erziehen, das sei nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht der Eltern, sagen die Konservativen, die das traditionelle Familienbild in Gefahr sehen. Von der frühkindlichen Bildung profitieren Kinder aller Schichten, nicht nur die reichen, die sich eine Betreuung leisten können, halten diejenigen entgegen, die im Bildungssystem Ungerechtigkeiten sehen.

Seitdem Bund, Länder und Kommunen 2007 den Kitaausbau beschlossen haben, hat sich die Anzahl der Plätze mehr als verdoppelt. Seit 2013 hat jedes Kind einen Anspruch auf einen Platz in einer staatlichen Einrichtung. Mittlerweile sind sich Politiker fast aller Couleur einig, dass der Staat das Kitaangebot nicht nur ausbauen soll, sondern sich jeder die Betreuung leisten können soll. In Berlin, Hamburg oder Rheinland-Pfalz verlangen staatliche Kitas teilweise keine Gebühren mehr. Der Disput um die Kitas dreht sich heute im Kern nicht mehr um eine pädagogische, sondern um eine sozialethische Frage: Wie sehr darf Erwerbsarbeit das Privatleben dominieren?

Kritiker der 24-Stunden-Kita sehen die Errungenschaften aus zwei Jahrhun­derten in Gefahr

Die aktuell diskutierte Einführung eines Nonstopservice als Standardangebot setze ein falsches Signal, meint Norman Heise, Vorsitzender der Landeselternvertretung in Berlin. „Die Unternehmen sollten von ihren Mitarbeitern gar nicht verlangen können, dass sie ihre Kinder über Nacht zurücklassen“, kritisiert er. Die Familie habe sich nicht einseitig nach den Vorgaben der Wirtschaft zu richten. Eine 24-Stunden-Betreuung der Kinder liege so gesehen keineswegs im Interesse der Eltern. Sie diene vorrangig jenen Betrieben, die trotz machbarer Alternativen unbedingt an ihren gewohnten Zeittakten festhalten wollen. Die Vereinbarkeit zwischen Arbeit und Familie, so der Elternvertreter, betrachteten sie als individuelles Problem, das die Kitaanbieter mit Turbodienstleistungen lösen sollen.

Kritiker an der Rund-um-die-Uhr-Betreuung wie Heise sehen die Errungenschaften in Gefahr, die Kirchen, Sozialdemokraten, Gewerkschaften und Betriebsräte in den vergangenen zwei Jahrhunderten erstritten haben: die 30-Stunden-Woche, das arbeitsfreie Wochenende, Überstundenausgleich oder -abbau.

100 Millionen vom Bund

Die Befürworter hingegen führen an, dass Angebote wie die 24-Stunden-Kita dazu beitragen können, dass keiner der beiden Elternteile seine Arbeit aufgeben muss, wenn der Nachwuchs kommt. Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig plant deshalb in den kommenden drei Jahren das 100-Millionen-Programm „KitaPlus“, das bis 2018 den Ausbau der Kinderbetreuung in den Randzeiten fördern soll. Sie reagiert damit auf die längeren Öffnungszeiten im Einzelhandel oder die flexiblen Anforderungen im Dienstleistungssektor.

Eltern, die ohne die Hilfe der Großeltern erziehen oder den gleichen Schichtrhythmus haben, brauchen auf sie zugeschnittene Angebote. Allerdings gibt es dafür noch andere Möglichkeiten als die Rund-um-die-Uhr-Kita: etwa den verstärkten Einsatz bezahlter PflegerInnen, die den Nachwuchs im elterlichen Haushalt betreuen. Im Notfall kann auch ein kleines Kind mal eine Nacht außerhalb seiner gewohnten Umgebung verbringen.

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