Auf Bierkisten gebaut

Eingriffe „Raum auf Zeit“ befasst sich mit dem Zusammenspiel von Kunst, Architektur und Stadtplanung. Nun ist der dritte Band des Hochschulprojektes erschienen

„Gerade in öffentlich zugänglichen Stadträumen, in denen viele Nutzungsinteressen von Eigentümern, Mietern und Nutzern aufeinandertreffen und unterschiedlichste Anforderungen von Verkehr, Konsum und Unterhaltung bis zur Erholung zusammenlaufen, können künstlerische Aktionen Ansprüche und Wünsche zutage fördern und moderieren. Dabei erschließen sich viele Dimensionen, Bedeutungen und Funktionsweisen öffentlicher Räume im Kern durch die Verbindung abstrakter und gedanklicher Auseinandersetzung mit dem direkten Erleben und dem eigenen Agieren und Eingreifen.“

Ulrich Berding und Florian Kluge, die mit Willem-Jan Beeren die Bände „Raum auf Zeit“ herausgeben, über temporäre Interventionen

von Lars Klaaßen

Um einen neuen Blick auf die gewohnte Umgebung zu bekommen, braucht es nicht unbedingt viel. In Paderborn zum Beispiel haben 16 Studierende mit 10 Stableuchten, 5.000 Kabelbindern und 1.500 Bierkisten innerhalb weniger Tage eine angeregte Diskussion und eine breites Echo in den Medien hervorgerufen. Das Objekt ihres Eingriffs im Mai 2013 und der darauffolgenden Debatte war der vermeintlich unscheinbare Franz-Stock-Platz in der Innenstadt. Paderborn hatte sich auf das Modellvorhaben „Baukultur in der Praxis“ des Bundesinstituts für Bau-, Stadt-, und Raumforschung beworben. Ziel dieses Förderprogramms ist es, „das Bewusstsein für Baukultur auf kommunaler Ebene zu stärken und praxistaugliche Ansätze zur Qualitätssicherung im Städtebau aufzuzeigen“. Einen Anstoß dazu gaben in Paderborn Studierende der Alanus Hochschule in Alfter, die 1973 aus einem an­thro­posophischen Impuls heraus gegründet wurde. In dem Projekt „Raum auf Zeit“ befassen sich Künstler, Wissenschaftler und Studierende dort schon seit 2005 mit dem Zusammenspiel von Kunst, Architektur und Stadtplanung.

„Welche Rolle können zeitlich begrenzte künstlerische Aktionen bei der Gestaltung von Stadträumen spielen? Das ist eine der zentralen Fragen, mit denen wir uns auseinandersetzen“, erläutert Willem-Jan Beeren, Professor der Alanus Hochschule im Fachbereich Architektur für das Lehrgebiet „Architektur und Kunst im Dialog“ und einer der drei Leiter des Projekts. In Paderborn schufen die Studierenden aus den Bierkisten eine begehbare Skulptur, die gewohnte Sichtweisen aufbrechen und neue Blickwinkel eröffnen sollte. Anfangs ergriffen die Kisten teppichartig Besitz vom Platz. Sie veränderten dadurch Wege, weckten Aufmerksamkeit und ließen ein neues Raumgefüge entstehen. Daraufhin kumulierten die Kisten in der Platzmitte, langsam wuchs die Skulptur in die Höhe. Am Ende stand ein begehbarer schwarzer Kubus, der sich deutlich von der Bebauung am Platzrand abhob. Viele Paderborner erkundeten die sich wandelnde Skulptur und diskutierten über ihre Erfahrungen vor Ort. Presse und Lokalfernsehen ­trugen das Geschehen und die Debatte weiter. Der Franz-Stock-Platz erfuhr eine Aufmerksamkeit wie lange nicht mehr: Man ­diskutierte, was er ist und was er sein könnte.

Jedes Mal wird neu diskutiert, wem der öffentliche Raum eigentlich gehört

„Solche zeitlich begrenzten künstlerischen Aktionen verändern den Raum, in dem sie stattfinden. Mit den Eingriffen erzielen die Planer, Architekten und Künstler vorübergehende Effekte, die den Dialog mit Passanten anregen, Erkenntnisse über den Raum bringen und neue Fragen aufwerfen“, sagt Beeren. „Sie sind damit gleichermaßen Planungsprinzip, Untersuchungsmethode und Gestaltungsmittel und können zum Beispiel langfristige Planungsprozesse begleiten, kommentieren oder experimentell vorbereiten.“ Gerade wer sich lange mit einem Ort befasse, werde betriebsblind. „Daher profitieren auch professionelle Planer von solchen Interventionen, die nicht berechenbar sind.“ Die Teilhabe interessierter Bürger an solchen Kunstprojekten macht den Stadtraum ein Stück weit öffentlicher. Die Auseinandersetzung und damit Planung bleibt nicht nur Sache von Experten, die selbst oft keine Alltagserfahrung mit dem konkreten Ort mitbringen. „Jedes Projekt bringt für den jeweiligen Ort überraschende Ergebnisse“, so Beeren. „Und jedes Mal wird von Neuem hinterfragt, wem der öffentliche Raum eigentlich gehört.“

„Raum auf Zeit“ ist fester Bestandteil der Architekturlehre an der Alanus Hochschule, fasst aber auch regelmäßig für andere Interessierte zusammen, was sich bei temporären Interventionen tut. Während die ersten beiden Bände der Buchreihe eine Auswahl von jeweils elf konkreten Projekten gezeigt haben – zum Beispiel ein Netzdach aus weißer Kordel über dem Brüsseler Platz im Belgischen Viertel Kölns oder eben die Skulptur aus Bierkisten inmitten der Paderborner Innenstadt –, geht der kürzlich erschienene dritte Band weiter: Gemeinsam mit elf weiteren Autoren entwickeln die Herausgeber eine vielseitige theoretische Auseinandersetzung, die temporäre Interventionen aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchtet. Zu Wort kommen Künstler, Forscher, Theoretiker und Planer, die sich – jeder auf seine ganz spezifische Weise – mit Räumen und Interventionen auseinandersetzen. Auftakt zu dieser Auseinandersetzung war ein Symposium, das im September 2015 mit 17 ausgewählten Teilnehmern an der Alanus Hochschule stattfand. Ziel des Symposiums und des daran anknüpfenden dritten Bandes ist es, sowohl die bisherige Arbeit weiterzuentwickeln und neue Projekte zu initiieren als auch ein Netzwerk zu eta­blieren.

„Raum auf Zeit: Temporäre Interventionen im öffentlichen Raum (Band 3).“ Hrsg. von Willem-Jan Beeren, Ulrich Berding und Florian Kluge. Verlag Beeren Berding Kluge, 2015, 140 Seiten, 25 €.