Singen für Superman

In der Passionskirche brachte Sufjan Stevens mit Band seine „Illinois“-Saga zum Klingen. Bei so viel heiligem Folk und Süßgesang waren kullernde Bierflaschen die einzigen Zeichen von Welthaftigkeit

VON CHRISTIANE RÖSINGER

Sufjan Stevens hat sich einiges vorgenommen, er will die 50 amerikanischen Bundesstaaten vertonen. Dieses Folk-Lebenswerk hat er mit seinem Heimatstaat Michigan begonnen, inzwischen ist er bei Illinois angelangt. Ist diese Idee nun auf ehrlichem Patriotismus und tiefer Religiosität gegründet – oder ist es die liebenswerte Verschrobenheit eines musikalischen Wunderkinds und Multi-Instrumentalisten?

Bei Sufjan Stevens kann man durchaus von einem ungetrübten Verhältnis zu Religion und Heimat ausgehen. Das mag uns zunächst irritieren, denn wer würde hierzulande schon auf die Idee kommen, die 16 Bundesländer von Baden-Württemberg bis Meck-Pomm zu vertonen? Aber Sufjan Stevens meint es ernst: Er hat recherchiert, die Höhe- und Tiefpunkte der Geschichte des Präriestaates isoliert, Pop- und Gründungsmythen gesammelt und liefert nun, wie amerikanische Kritiker schreiben, „Eastcoast stereotypes of tough Midwestern values“.

Das zweite Stück auf der Illinois gewidmeten CD trägt wohl einen der längsten Songtitel der Musikgeschichte: „The Black Hawk War, or, how to demolish an entire civilization and still feel good about yourself in the morning, or, we apologize for the inconvenience but you’re going to have to leave now, or, ‚I have fought the big knives and will continue to fight them until they are off our lands!‘“. Das Stück selbst ist dann ein triumphales Instrumental, das die Vertreibung der Black-Hawk-Indianer zum Thema hat.

Überhaupt hört man auf „Illinois“ eine sehr schöne, detailreiche, technisch präzise Musik, die auf moralischen Grundfesten steht. Üppig instrumentierte Songs wechseln zu minimalistischen Arrangements, funky Bläsereinsätze folgen auf hypnotisches Glockenspiel. Die stets allzu sanfte Stimme Stevens’ erinnert dabei an den jungen Paul Simon, aber die dreistimmigen Chöre zitieren bis auf Melodieführung und Phrasierung das einmalige Chorwerk von Crosby, Stills, Nash & Young.

Live kann die musikalische Vielschichtigkeit der Platte natürlich nicht eins zu eins wiedergegeben werden, dafür laufen am Mittwochabend die Musiker in orangefarbener Joggingkleidung, gelben Schweißbändern und passenden Puscheln in die Passionskirche ein. Sufjan Stevens sagt jedes Stück an, berichtet von der geografischen Besonderheit des vertonten Landstrichs, von der Baumaschinenindustrie, von wilden Tieren, auf die man beim Campen treffen kann; oder er betet die sozialen Errungenschaften der Stadt Jacksonville herunter.

Manchmal leiten auch Streck- und Dehnübungen die Songs ein. Ready? Ok! Weiter geht es mit Superman, Al Capone und Chicago, „Abraham Lincoln the Great Emancipator“ reimt sich auf Alligator. Sufjan Stevens spielt Banjo, Klavier, Gitarre; die himmlischen Chöre sind da, die triumphierenden Bläser, die Musikerinnen an Gitarre und Keyboard, und so erklingt fast die ganze „Illinois“-Saga. Das immer sehr ergebene Publikum in der Passionskirche neigt ja dazu, sich allzu sakral zu verhalten, dazu die festlich-pastorale Musik … Da ist es fast erleichternd, wenn ab und zu ein paar Bierflaschen laut und lange über den Steinboden kullern und ein wenig Welthaftigkeit in die Szenerie bringen.

Ist das jetzt Neo-Folk, Antifolk, New Weird Folk, oder Christ-Folk? Auch im neuen Folk geht anscheinend nichts ohne Familie, Nachbarschaft, Liebe zum Land, christliche Werte, Hippiegemeinschaften und musizierende Eheleute.

Man will sich nach diesem Sufjan-Stevens-Konzert, bei all der musikalischen Schönheit, bei all diesen positiven jungen Menschen auf der Bühne, bei all dem ironischen Dann-doch-Einverstandensein hinterher ein wenig schütteln, verspürt ein leises Bedürfnis – nach Schmutz, Alkohol und nach lauter, verstörender Musik.