„Der eigentliche Hotspot im Berliner Nachtleben ist die Gästeliste“

Das bleibt von der Woche Berliner Clubgänger spenden fast 50.000 Euro für die Flüchtlingshilfe, der Regierende sieht am Kotti keine No-go-Area, Beatrix von Storch hat ihre GEZ-Gebühren nicht bezahlt, und Opfer sexueller Gewalt können die Spuren der Tat bald vertraulich sichern lassen

Regierender in der
No-go-Area

Müller und der Kotti

Was eine sichere Ecke Berlins ist, entscheidet jeder für sich selbst

Wer spätabends im Wohnzimmersessel die „Tagesthemen“ schaut, muss sich um seine körperliche Unversehrtheit nicht sorgen. Genauso wenig wie der meist von Securitypersonal begleitete Michael Müller, der in der ARD-Sendung am Montag vehement bestritt, dass es in Berlin rechtsfreie Räume gebe, also No-go-Areas, in denen man um seine Leben fürchten müsse. Selbst das Kottbusser Tor, wo sich laut der jüngsten Polizeistatistik Straftaten wie Taschendiebstähle und Überfälle stark häufen, sei lediglich ein „Kriminalitätsschwerpunkt“. Womit er eigentlich recht hat. Müller fügte hinzu, dass der Innensenator sich da mal drum kümmern müsste. Womit er eigentlich auch recht hat.

Nun ist das mit den vermeintlich gefährlichen Ecken aber so eine Sache: Wer was als unbetretbar bezeichnet, hängt von der eigenen Einschätzung ab, von Charaktereigenschaften, Erfahrungen, teils auch vom Geschlecht. Im Ergebnis ist fast jede Gefährdung eine subjektive Größe, Statistik hin oder her.

Das wiederum stellt ein Pro­blem für Politiker dar, die es möglichst vielen potenziellen Wählern recht machen wollen. Zudem präsentierte sich Müller wie ein Bürokrat, der seine auswendig gelernten Zahlen über neu eingestellte Polizisten herunterleierte und damit tatsächlich bestehende Probleme zu igno­rieren schien.

Müller hat letztlich mit seinem verkorksten Auftritt eine No-go-Area betreten und wird dafür mächtig Dresche kassieren: von WählerInnen, die sich vom Regierenden igno­riert fühlen; von der AfD, die solche Auftritte für sich nutzen will; von den Grünen, die inzwischen in ihren Stellungnahmen zur Kriminalität allzu gerne auf Nummer sicher gehen. Und nicht zuletzt vom Nochko­ali­tions­partner CDU und Henkel, die es bisher nicht geschafft haben, sich bei diesem Thema zu profilieren. Dank Müller könnte das nun besser klappen. Bert Schulz

Sicherung der Spuren ohne Polizei

Sexuelle Gewalt

Die Einführung der vertraulichen Spurensicherung war überfällig

Vielen Opfern einer Vergewaltigung fällt die Entscheidung zu einer Anzeige sehr schwer. Scham spielt da eine Rolle, Angst vor dem Täter, der häufig aus dem Umfeld stammt. Meist haben die Betroffenen nach so einem Erlebnis auch erst mal genug mit sich selbst zu tun. Ob der Gerechtigkeit Genüge getan wird, empfinden sie als zweitrangig. Das kommt später.

Insofern ist es eine wirklich gute Nachricht für den Opferschutz, wenn Berlin – wie am Freitag bekannt wurde – ab Mitte Mai eine vertrauliche Spurensicherung anbietet. Bislang mussten Betroffene sexueller Gewalt Anzeige erstatten, wenn sie die Spuren dokumentieren lassen wollten. In Zukunft ist das auch möglich, ohne die Polizei einzubinden. Die Opfer gewinnen dadurch Zeit. Sie können sich direkt nach der Tat untersuchen lassen, wenn die Spuren noch sichtbar sind – und sich dann in Ruhe überlegen, ob sie Anzeige erstatten wollen oder nicht.

Das zu überlegen ist angeraten. Denn ein Gerichtsprozess kann belastend sein. Im Zweifel für den Angeklagten – ein besseres als dieses Prinzip gibt es bislang nicht. Bei Sexualdelikten hat es zur Folge, dass eine Frau, die keine Spuren von Gewalt mehr vorweisen kann, vor Gericht schlechte Chancen hat. Der Täter muss nur sagen, sie habe freiwillig mit ihm geschlafen, schon kommt er ungeschoren davon. Die Frau erfährt zum zweiten Mal, dass sie ohnmächtig ist.

Wenn die Betroffenen in Zukunft vermehrt auf rechtsmedizinische Dokumente aus der vertraulichen Spurensicherung zurückgreifen können, stärkt das ihre Position. Insofern ist deren Einführung ein echter Fortschritt. Wobei man bei aller Begeisterung sagen muss: Sie war auch überfällig. Anderswo, etwa in Frankfurt am Main, gibt es diese vertrauliche Spurensicherung schon seit Jahren.

Antje Lang-Lendorff

Ein hübscher PR-Coup

Von Storch twittert

Auch Neonazis betreiben Anti-GEZ-Facebook-Seiten für ihre Propaganda

So ein Zufall: „GEZ-Gefangene befreien: nächstes Mal AfD wählen“, hatte die AfD-Landesvorsitzende Beatrix von Storch gerade erst auf Twitter gefordert, nachdem bekannt geworden war, dass eine GEZ-Verweigerin aus Chemnitz in Erzwingungshaft sitzt. Nur knapp zwei Stunden später an diesem Montag ein neuer Tweet: Ihr eigenes Konto sei nun gepfändet worden, schreibt von Storch, weil Rundfunkbeiträge fehlen.

Der AfD-Sprecher Gläser bestätigte später die Nachricht – ob sie wirklich stimmt, sei dahin­gestellt. So oder so ist Bea­trix von Storch damit ein hübscher PR-Coup gelungen: Sie inszeniert sich als Märtyrerin, die für ihre Überzeugungen auch persönliche Nachteile in Kauf nimmt. Und das nicht ohne Grund ausgerechnet beim Thema Rundfunkgebühren: Missbilligung der GEZ-Beiträge ist ein anschlussfähiges Thema, auch über die Stamm­klientel der AfD hinaus. Facebook-Seiten, die Stimmung gegen die Gebühren machen, gefallen Tausenden NutzerInnen. Auch Neonazis nutzen das Thema übrigens gern für ihre Zwecke, etwa indem sie Anti-GEZ-Facebook-Seiten betreiben, auf denen sie dann rechts­ex­treme Propaganda verbreiten.

Der AfD sind dabei nicht nur die Gebühren selbst, sondern gleich der gesamte öffentlich-rechtliche Rundfunk ein Dorn im Auge: Einen Änderungsantrag, nachdem dieser als „verfassungswidrige Propagandamaschine“ bezeichnet wurde, lehnte der Landesparteitag am vergangenen Sonntag zwar ab; allerdings, das betonte von Storch persönlich, sei der Antrag „in der Sache richtig“, nur vom Sprachduktus her passe er nicht in das Programm, in dem sich die AfD insgesamt um eher zahme Formulierungen bemüht. Auch diese Medienkritik ist anschlussfähig – einerseits an die „Lügenpresse!“-Schreier auf Pegida- und Neonazi­demos, andererseits an all jene, die oftmals berechtigte Kritik an nur vorgeblich neutraler Berichterstattung üben.

So weit, so folgerichtig in der AfD-Logik. Was sie und ihre AnhängerInnen dabei aber offenbar vergessen, ist die wichtige Rolle, die die Berichterstattung gerade auch der öffentlich-rechtlichen Sender für die Partei spielt: Könnten deren Pro­tago­nistInnen nicht in gefühlt jeder zweiten Talkshow ihre kruden Ansichten verbreiten – was auch die vermeintliche Märtyrerin von Storch nie ausschlägt – und damit den öffentlichen Diskurs über Asylpolitik entscheidend prägen, wäre es mit dem Erfolg der AfD wohl längst nicht so weit her. Deswegen ein Vorschlag zur Güte: Von Storch und alle anderen AfD-PolitikerInnen werden von der GEZ-Gebühr bezahlt – und tauchen dafür nie wieder in der öffentlich-rechtlichen Berichterstattung auf. Malene Gürgen

Kleine Hilfe von der Gästeliste

Plus 1 für Flüchtlinge

Das Bezaubernde an der Kampagne: die charmant ein-fache Idee dahinter

Der eigentliche Hotspot im Berliner Nachtleben, das ist bestimmt die Gästeliste. Weil man doch gerne ausgeht und dabei nicht immer gleich den Eintritt zahlen will. Weil das Ausgehen ja auch für viele schlicht eine ­Arbeit ist, mit der man sein Geld verdient. Wenn man etwa als Konzertkritiker unterwegs ist. Und da man dabei nicht gern allein ist, gibt es den schönen Gästelistenbrauch „Plus 1“.

Heißt: dass auch eine Begleitperson kostenlosen Eintritt bekommt. Jedenfalls sind die Gästelisten in Berlin oft so voll von Namen, dass man manchmal fast den Eindruck bekommen könnte, die ein oder andere Veranstaltung sei nur für das Gästelistenpersonal gedacht.

Eine Ressource also, aus der man schon mal schöpfen darf. Schöner noch, wenn’s für einen guten Zweck ist. So hatten sich vergangenen Oktober mehrere Berliner Konzertveranstalter, Clubs und Künstler zu einer Kampagne zusammengeschlossen, um das „Plus 1“ neu zu definieren und die Gäste­listler zu ­einer freiwilligen Spende für die Flüchtlingshilfe zu bewegen. „Plus 1 – Refugees welcome!“ heißt die Initiative. Ziel: Wer auf der Gästeliste steht, solle doch bitte sehr wenigstens einen Solidaritäts-Euro in die an den Veranstaltungsorten aufgestellten Kassen werfen.

Am Dienstag zog man bei der Kampagne erste Bilanz. Fast 50.000 Euro sind mit diesem „Plus 1“ bis dato zusammengekommen. Profitieren werden davon die Initiative Moabit hilft, der Flüchtlingsrat Berlin und das Hilfsprojekt Sea Watch.

Das Bezaubernde an der „Plus 1“-Kampagne ist, dass dahinter eine charmant einfache Idee steckt, ohne die Notwendigkeit eines großen organisatorischen Überbaus. Nur eine Kasse aufgestellt, fertig. Und dabei ­allemal ertragreicher als ein Protestsong. Außerdem hat sich die Berliner Clubszene damit nicht nur so nebenbei als gesellschaftlicher Akteur in Stellung gebracht, der nicht nur aufschreit, wenn ihm mal selbst auf die Füße getreten wird, oder der ­einem das schlichte Beastie-Boys-Motto „Fight for your Right“ mit dem Partymachen bereits als politische Maßnahme verkaufen will.

Jetzt könnte man natürlich einwenden, dass die Finanzierung der Flüchtlingshilfe doch gefälligst vom Staat – also von allen, nicht nur von privilegierten Gästeplatzinhabern – geleistet werden sollte. Möglicherweise ist aber auch dabei die Berliner Solidaritäts-Euro-Kampagne bereits der richtige Fingerzeig – für einen noch viel grundsätzlicheren Solidarbeitrag. Thomas Mauch