„Das war doch damals so üblich“

Aufarbeitung Mindestens 56 behinderte Kinder wurden in der NS-Zeit allein im Kinderkrankenhaus Hamburg-Rothenburgsort ermordet. Ein Buch von Andreas Babel sucht die Spuren der Täter

Fassadenschmuck bis heute: „Mutterliebe“ des den Nazis nahen Richard Kuöhl, der auch den „Kriegsklotz“ am Hamburger Dammtorbahnhof schuf Foto: Gesche Cordes

Von Joachim Göres

Mindestens 56 Kinder haben Ärztinnen des Hamburger Kinderkrankenhauses Rothenburgsort zwischen 1940 und 1945 zu Tode gespritzt. Es war ein Zehntel der 5.000 geistig und körperlich Behinderten, die während des Dritten Reichs ermordet wurden. Grundlage war der Euthanasie-Erlass des NS-Regimes von 1939. Ihm zufolge sollte „unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden“.

Nach Kriegsende ermittelte das Landgericht Hamburg zwar, doch weder Krankenhauschef Wilhelm Bayer noch elf beteiligte Medizinerinnen wurden angeklagt: Sie hätten das Unrecht nicht erkennen können, fanden die Juristen.

Soweit die historischen Fakten. 70 Jahre später hat sich der Journalist Andreas Babel in seinem Buch „Kindermord im Krankenhaus“ auf die Spur dieser Medizinerinnen begeben, von denen keine mehr lebt. Welches waren ihre Motive, wie verlief ihre Karriere nach Ende des Zweiten Weltkriegs, wie haben sie sich nach 1945 geäußert, was berichten Verwandte über sie?

Fünf Jahre hat der Autor für sein Buch Akten und Forschungsarbeiten studiert und mit etlichen Menschen gesprochen. Sein Fazit: In der Mehrzahl machten die Frauen ohne wirklichen Zwang mit. Sie seien, schreibt er, geleitet gewesen von Karrierestreben und unbedingtem Gehorsam. Auch seien sie überzeugt gewesen, das Richtige zu tun: „weniger ‚wertvolle‘ Menschen zugunsten derer zu beseitigen, die es ohne sie leichter haben würden“, so Babels Fazit.

Das bereuten sie auch nach dem Krieg nicht; ein typisches Beispiel ist Helene Sonnemann, stellvertretende Leiterin des Kinderkrankenhauses Hamburg-Rothenburgsort. Laut Ermittlungsakte hat sie zwölf Kinder mit dem Schlafmittel Luminal getötet. Auf Nachfragen der Staatsanwaltschaft gab sie die Tötungen zu und rechtfertigte sie.

Den einjährigen Werner Nohr etwa habe sie wegen seines Down-Syndroms 1942 mit einer Spitze getötet. Ein solcher Todeskampf konnte bis zu drei Tage dauern. Den Eltern teilte das Krankenhaus mit, dass ihr Kind an einer Krankheit gestorben sei.

Der Nachkriegskarriere schadete das nicht, im Gegenteil: Sonnemann wurde 1951 Leiterin der Kinderklinik Celle. Bei ihrer Verabschiedung in den Ruhestand 1976 resümierte sie: „Das Ziel ist ohne Unfall erreicht.“

Ein Neffe, der – wie viele andere von Babel befragte Verwandte – nicht namentlich genannt werden möchte, erinnert sich an Gespräche mit seiner Tante zur Euthanasie und zitiert sie mit den Worten: „Ich habe doch nichts Schlimmes gemacht. Das war doch damals so üblich.“ Und noch Ende der 1960er-Jahre hat Sonnemann der Mutter eines behinderten Kindes empfohlen, das Kind in den Durchzug zu stellen, damit es an der folgenden Lungenentzündung sterbe.

Als sie dies riet, war sie bereits wieder praktizierende Ärztin; alle, die in der NS-Zeit in Rothenburgsort gemordet hatten, konnten nach dem Krieg weiter in ihrem Beruf arbeiten: Die Hamburger Ärztekammer hatte es 1961 abgelehnt, ihnen die Zulassung zu entziehen.

Im Gegensatz zum NSDAP-Mitglied Sonnemann kann man bei anderen Ärztinnen allerdings nur vermuten, warum sie sich an den Kindermorden beteiligten, für die sie eine Sonderzulage bekamen. Denn nach 1945 haben sie darüber selten oder gar nicht gesprochen. Allerdings, nur zwei der elf Ärztinnen bekamen später eigene Kinder. Auffallend ist auch, dass die meisten befragten Verwandten heute Verständnis zeigen. „Kann man sich ja heute gar nicht mehr vorstellen, unter welchem Druck die standen“, ist da zum Beispiel zu hören.

„Würden Sie es einem Arzt verzeihen, wenn er Ihr Kind getötet hätte, nur weil er dazu gezwungen worden ist?“

Sohn der Ärztin Margarita van der Borg, die nicht mitmordete

Umso interessanter sind die Kapitel über jene vier Ärztinnen, die nicht mitmordeten. Sie zeigen, dass man sich weigern konnte, ohne Nachteile fürchten zu müssen. Sehr eindrücklich berichtet Babel hier von eigenständigen Frauen, für die die Sorge um die ihnen anvertrauten Kinder Priorität hatte.

Ihre Motivationen waren unterschiedlich: Einige schöpften ihre Widerstandskraft aus tiefer Religiosität. Margarita van der Borg etwa bewarb sich nach wenigen Monaten an ein anderes Krankenhaus; in Rothenburgsort hatte man sie unter Druck gesetzt, mitzutun. Ihr Sohn teilt ihre Haltung. Für ihn macht es keinen Unterschied, ob damals Druck herrschte oder nicht: „Würden Sie es einem Arzt verzeihen, wenn er Ihr Kind getötet hätte, nur weil er dazu gezwungen worden ist?“

So versammelt das Buch Schicksale und Statements verschiedener Art, verliert sich allerdings manchmal im Detail. Da fällt es nicht immer leicht, übergeordnete Fragen wie die nach der juristischen Aufarbeitung im Blick zu behalten. Dennoch ist es lesenswert, zumal es zeigt, dass sowohl vor 1933 als auch nach 1945 viele Menschen den „Gnadentod“ für Behinderte befürworteten.

Heute befindet sich im einstigen Krankenhausgebäude in der Hamburger Marckmannstraße das Institut für Hygiene und Umwelt. Im Gehweg liegen Stolpersteine für die ermordeten Kinder, finanziert durch Patenschaften der Institutsmitarbeiter. Etwas abseits hängt zudem eine vom Senat initiierte Gedenktafel. Sie berichtet, dass Hamburger Gesundheitsverwaltung, Amtsärzte sowie Ärzte des Kinderkrankenhauses an den Morden beteiligt waren. Der Text schließt mit den Worten: „Keiner der Beteiligten wurde dafür gerichtlich belangt.“

Andreas Babel: „Kindermord im Krankenhaus. Warum Mediziner während des Nationalsozialismus in Rothenburgsort behinderte Kinder töteten“, Edition Falkenberg 2015, 224 Seiten, 16,90 Euro