Im Anwohnerpark

MANJA PRÄKELS

Teil 29: Alle Blumen brauchen Wasser

Frohe Ostern!“

„Is doch längst vorbei.“

„Piepegal.“

„Jaja. Es piept.“

Vogelsang und zarte Triebe hatten die Straße nordöstlich des Alexan­derplatzes in ein kleines Paradies verwandelt, das von seinen Bewohnern lustwandelnd durchschritten wurde, als gelte es, die Welt neu zu entdecken. Väter, Mütter, Großeltern, seltener auch Tanten, trugen Neugeborene wie Sträuße mit frischen Schnittblumen umher, hielten einander an den Händen, lächelten und blickten zum Himmel, wo winzige Wölkchen über das große Azur huschten. Rotwangige Kinder rannten um die Wette, während gegenüber die Kaufhallenköter genüsslich an ihren Hinterausgängen schnüffelten. Die Kindermeute flitzte hell begeistert am blaulichtvorbei in Richtung der Turnhalle. Auf Höhe des Bioladens stolperte ein abgehängter Kapuzenzwerg, blieb mit dem Schuh am Schirmständer hängen und schlug der Länge nach aufs Pflaster. Sein Gebrüll erfüllte den Vormittag, übertönte selbst die vorlauten Grünfinken und zerriss damit im Nu die Sonntagsstimmung. Während die besorgten Eltern Anne, die Geschäftsinhaberin, zweistimmig beschimpften, nahm der Zwerg die Verfolgung wieder auf. Caramba, diese Kanaillen sollten ihn nicht unterschätzen! Verdutzt schaute Anne dem Pärchen nach, das seinem rasenden Kinde prompt hinterherhetzte. Ihre Sorge schien nur zu berechtigt.

„Huhu Anne!“

„Hallo Lale. Willkommen zurück!“

„Ja, bis später ...“

Misstrauisch beobachtete Anne, wie Lale im benachbarten blaulichtverschwand. Am Vortag hatte Annes Schwester Rieke das Mädchen zurück in die Stadt gebracht. Zu dritt hatten sie einen schönen Abend miteinander verbringen wollen. Doch Lale und Rieke hatten so seltsam vertraut miteinander gewirkt. Wie Verbündete, die ein Geheimnis teilen, hatten sie sich ständig vieldeutige Blicke zu geworfen, bis Anne sich wie eine Idiotin vorgekommen und schließlich wütend nach Hause gefahren war. Zweifelsohne gab es Geschichten, die nicht jeder hören durfte. Und doch mussten sie erzählt werden. Einer, die sie verstand. Einer, die sie für sich behielt. Ihr! Noch nie hatte Anne sich ihrer Schwester so fern gefühlt. „Ungeheuerlich“, murmelte sie seitdem unablässig vor sich her. „Ungeheuerlich“ stand wie eine Leuchtreklame über allen anderen Gedanken.

Hildegard empfing ihre beste Tresenkraft mit einer herzlichen Umarmung. Die Kleine sah fantastisch aus, wirkte frisch und aufgedreht.

„Ick bin wieder jesund.“

„Dit seh ick.“

Die Wirtin schenkte Kaffee ein, rührte klirrend den Zucker unter und tätschelte dabei unaufhörlich Lales Hand. Nach all dem Wahnsinn des noch jungen Jahres, der Angst um den Laden, der Gasexplosion im Hinterhof, dem Naziblödsinn und den Kloppereien glich Lales fröhliches Erscheinen einem Wunder, einem schönen Traum. Noch immer bekam Hildegard eine Gänsehaut, wenn sie daran dachte, wie übel zugerichtet das Mädchen plötzlich im blaulichtgestanden hatte. Landluft und Ruhe jedoch hatten anscheinend nicht nur Haut und Knochen wieder heilen lassen. Pfeifend, als sei nie etwas geschehen, nahm Lale den Besen in die Hand und ging an ihre Arbeit. Da steckte auf einmal jemand seinen Kopf durch die Tür, klopfte und trat ein.

„Hier is noch zu.“

Der Mann trug einen Dreitagebart und abgetragene Jogginghosen. Sein Lächeln gefiel der Wirtin gut. Sie legte den Kopf zu Seite, kniff die Augen zusammen und prüfte den ungebetenen Gast: Kein Paradiesbewohner. Eher einer von den Flüchtlingen, die seit Jahresbeginn in der Turnhalle lebten...

„Äh. Schuldig. Wo iesss Bjolatte?“

„Wie bitte?“

„Bjolatte. Kuuursss. Doitschprak.“

„Im Bioladen? Nee, ich zeig es ihnen.“

Seit ein paar Enthusiasten auf der gegenüberliegenden Straßenseite Sprachkurse anboten, stand die Eingangstür des letzten unsanierten Hauses nicht mehr still. Manche allerdings ließen sich zunächst von der bröckelnden Fassade abschrecken. Kein Wunder, wirkte doch das Haus zunehmend wie ein ausrangierter Kutter – rostzerfressen und verbeult – der sich in den Hafen mit den Luxusyachten verirrt hatte. Wer fuhr da schon gerne mit?

Foto: Nane Diehl

Manja Präkels,Jahrgang 1974, schreibt, singt und tourt mit ihrer Band Der Singende Tresen. Soeben erschien beim Verbrecher Verlag die von ihr mit Markus Liske herausgegebene Textsammlung „Vorsicht Volk!“. Seit 2009 betreiben die beiden die Gedankenmanufaktur WORT & TON. Ihr Romandebüt „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ erscheint 2016.

Illustriert wird die „Im Anwohnerpark“-Serie von Maria MacDonald, cargocollective.com.

„Die landen öfter hier!“

Lale nahm die Neuigkeit mit einem Achselzucken hin. Sie war wohl in Gedanken.

Lustlos zog Oma Heinrich ihr Bienchen hinter sich her. Nun war endlich Frühling, doch die greise Pudelin kam einfach nicht in Fahrt. Immer öfter ließ sie auch ihr Lieblingsfressen stehen: Hering mit Rotkohl. Charlotte Heinrich, geborene Roth, machte sich Sorgen. So schlimm sogar, dass sie beschlossen hatte, ihrem Robert einen Besuch auf dem Friedhof abzustatten. Sie wünschte sich ein bisschen Mut von ihm, dem alten Partisanenherz, den sie so lieb gehabt hatte, wie keinen davor und erst recht nicht danach. Seufzend strengte sich Charlotte an. Bienchens störrische Verweigerung, ihre Pfoten zu benutzten, machte ihr zu schaffen.

„Moinmoin, kann ich behilflich sein?“

Sprottenpeter war wie ein echter Klabautermann aus dem Schatten eines Baumes auf sie zugetreten. Mit einem lockeren Knicks hatte er sich den Pudel geschnappt und auf den Arm genommen. Während er dem verdutzten Tier mit der freien Hand den Pony kraulte, blickte Peter der alten Nachbarin tief in ihre müden Augen: „Alle Blumen brauchen Wasser und ein Hund will auch getragen werden!“

Wortlos musterte Oma Heinrich den kauzigen Gesellen. Kannte sie den? Aber klar. Einer von den Stammkunden, die nächtelang vorm blaulichthockten, grölten und das Trottoir blockierten, war das. Aber so, aus der Nähe besehen, mochte sie ihn auf Anhieb. Selbst Bienchens Blick war weich und ohne Murr.

„Keine Angst, Madam. Sie haben nichts zu befürchten. Ich verrate Ihnen mal ein Geheimnis: In mir wohnt eine stolze, freie Möwe!“

War der verrückt geworden? Oder hatte er einen im Tee? Charlotte Heinrich, geborene Roth, beschloss, allen Warnungen der Vernunft zum Trotze, dem Mann ihren Arm zu leihen.