Mit dem Emir von Seite 13

FOTOGRAFIE Die Arbeitnehmerkammer zeigt Fotografien von Prokudin-Gorskij aus der Endphase des zaristischen Russlands – und den Anfängen der Farbfotografie

Eine kritische Auseinandersetzung mit der dunklen Seite der russischen Realität, mit Elend und Unterdrückung, war nicht erwünscht

VON LUCY M. LAUBE

Mit Bahn, Schiff und einem Ford reiste er quer durch das Zarenreich: Sergej Michailowitsch Prokudin-Gorskij. Im Auftrag von Zar Nikolaus II. entstanden dabei zwischen 1905 und 1914 mehr als 2000 Aufnahmen. Sie zeigen Menschen, Fabriken, Landschaften und Dörfer, Maschinen und Kulturgüter. Es sind Dokumente des Landes wenige Jahre vor der Oktoberrevolution und zugleich Pionierarbeiten der Farbfotografie. Peter Schenk hat sie alle gesichtet und für das neue Foyer der Arbeitnehmerkammer eine Auswahl getroffen, die noch bis Ende Januar zu sehen ist.

Zumeist im Querformat, manche quadratisch, sollen die in schlichten hellen Holzrahmen und ohne erklärende Texte präsentierten Fotos für sich sprechen, meint Schenk. Er vertraue „auf die Kraft der Bilder“. Und das kann er auch. Gleich am Eingang fesselt ein mongolisch aussehender, korpulenter Mann mit Tracht und Turban, der umso beeindruckender wirkt, als der Hintergrund vollkommen unaufgeregt ist. Es ist der Emir von Buchara, wie in einem ausliegenden Heft nachzulesen ist, in dem Bildtitel und Entstehungsjahr der Fotografien, sofern bekannt, aufgeführt sind. Der Emir ist anscheinend ein berühmter Mann; Besucher der Ausstellung in der Arbeitnehmerkammer hätten bei seinem Anblick erfreut ausgerufen: „Das ist der Emir von Buchara!“ Und auch in „Das Dorf“ des Literaturnobelpreisträgers Iwan Bunin taucht er auf – „auf Seite 13“, wie Peter Schenk erzählt. Für die Ausstellung sind die Fotografien thematisch geordnet – hier sind Aufnahmen aus dem asiatischen Teil Russlands zu sehen, dort Arbeiter in der Landwirtschaft, Dokumente des Aufbruchs in die Moderne, des Beginns der Industrialisierung. „Unendlich viele Eisenbahnbilder“ habe der Fotograf aufgenommen, erzählt Schenk. Der Eisenbahnbau und die Nutzung der Wasserwege waren wichtige Themen im damaligen Russland; das Reisen war beschwerlich. „Manche Bilder erinnern an Readymades“, meint Schenk, nur dass es die seinerzeit noch gar nicht gegeben habe.

Prokudin-Gorskij hatte mit dem Auftrag zu diesem wahnwitzig anmutenden Unterfangen, das zaristische Riesenreich abzulichten – immerhin ein Sechstel der Landmasse der Erde, ohne die heutige Infrastruktur –, von Nikolaus II. unter anderem einen mit Dunkelkammer ausgestatteten Eisenbahnwaggon, zwei Schiffe, eines für flache, eines für tiefe Gewässer, sowie einen Ford T bekommen. Der Zar wollte das Bildmaterial für die patriotische Erziehung einsetzen, weshalb „eine kritische Auseinandersetzung mit der dunklen Seite der russischen Realität, mit Elend und Unterdrückung“, nicht erwünscht war, wie es in den Informationen zur Ausstellung heißt. In der Tat, die Bilder wirken überwiegend idyllisch und friedlich. Die Aufnahme von zwei Häftlingen, die mit schweren Ketten um den Hals angebunden sind, sticht da schon sehr heraus.

Aus dem Vorhaben des Zaren wurde indes nichts, da Prokudin-Gorskij 1918 emigrierte, zunächst nach Norwegen und England, anschließend nach Frankreich. Seine Bildplatten nahm er mit. Und einen Zaren gab es bald auch nicht mehr.

Der Chemiker und Fotograf Prokudin-Gorskij, geboren 1863 in St. Petersburg, entstammte einer Adelsfamilie und studierte Chemie. Als Dozent an der Technischen Hochschule in Berlin lernte er Adolf Miethe kennen, den Erfinder der Kameratechnik, die er nutzte: die Dreifarbenfotografie. Mit Hilfe von Farbfiltern in Rot, Grün und Blau belichtete Prokudin-Gorskij jeweils eine Fotoplatte. Die so entstandenen Negative ergaben – übereinander gelegt – ein Farbbild. Wegen des dreimaligen Auslösens konnten allerdings keine bewegten Objekte aufgenommen werden. So erklären sich die überwiegend ernsten, starren Gesichter der porträtierten Menschen. Auch Innenaufnahmen waren wegen der Lichtverhältnisse kaum möglich. Folglich sind nicht nur die Porträts, sondern auch die Aufnahmen von Arbeitern – etwa griechische Teepflückerinnen – inszeniert. Sie mussten für das Foto in ihrem Treiben innehalten. Kleinste Abweichungen von der optimalen Belichtungszeit führten zu Farbstichen, Bewegung zu „Geistererscheinungen“ wie farbigen Flächen und Flecken auf den Bildern, was durchaus zum Charme der Bilder beiträgt. Die zum Teil über 100 Jahre alten Fotografien wurden für die Ausstellung nicht bearbeitet, nur beschnitten.

Nach dem Tod des Fotografen 1943 verkauften seine Söhne die umfangreiche Sammlung an die Rockefeller-Stiftung. Heute befindet sie sich in der Library of Congress in Washington.

■ „Unterwegs im zaristischen Russland mit Sergej Michailowitsch Prokudin-Gorskij“: Foyer der Arbeitnehmerkammer, Bürgerstraße 1, montags bis donnerstags 8 bis 18.30 Uhr, freitags 8 bis 13 Uhr, bis Ende Januar 2013