Ich bin im Buch

Eskapismus Wenn ich lese, werde ich eine Andere. Ein Tier, ein Ermittler, eine Gipfelstürmerin

Illustration: Marén Gröschel

Manchmal habe ich das Bedürfnis, wegzugehen. Weit weg. Weg von dem Ort, an dem ich bin. Dem langweiligen Leben, das ich führe. Weg von den ganzen finanziellen und moralischen Problemen, vor allem. Vielleicht bin ich einfach zu feige oder zu seriös – sicher ist, ich schaffe es nie, alles hinzuschmeißen und zu gehen. Also nehme ich in solchen Momenten meist ein Buch. Da kann ich flüchten vor dem, was die Realität bringt. Bücher bringen mich auf Reisen. Alles ist dort spannender, vieles schöner.

Manchmal bin ich die Hauptfigur. Ich habe dann eine wichtige Rolle, was im Leben nicht immer der Fall ist. Sich wichtig zu fühlen, ist das beste Gefühl überhaupt.

Beim Lesen stelle ich mir vor, eine Andere zu sein. Ich stelle mir das nicht nur vor, ich werde, ich bin eine Andere. Habe das Leben, das ich in der Geschichte bekomme. Vielleicht ermittle ich in einem Mordfall, stecke in der Haut des jungen Reporters Rouletabille. Genau wie er, kann ich Ruhe bewahren und die Leute durchschauen. Ich bin scharfsinnig und finde den Täter, auch wenn die Fälle komplex sind, wie in Das Geheimnis des gelben Zimmers.

Manchmal habe ich Romanzen. Bin die schöne Frau, die sich vom schönen Unternehmer verführen lässt. Er gibt mir den Glauben an die Liebe wieder. Er hört mir zu und respektiert mich; natürlich ist er treu und verständnisvoll.

Es kann sogar passieren, dass ich über Berge wandere. Ich bin sportlich und kräftig, kann alle Gipfel besteigen. Die Höhenangst ist weg. Ich laufe immer höher, bis an die Spitze des Himalaya. Ich fühle das Adrenalin in mir; Risiko gefällt mir.

Vielleicht bin ich Croc-Blanc. Ein Wolf ist mein Erzeuger, eine Hündin meine Erzeugerin. Ich bin eine Kreuzung. Komme in der Wildnis zur Welt und verbringe dort die Hälfte meines Lebens. Bin kämpferisch, bin stürmisch, passe mich dem Wald an, der Nacht, den Schatten, dem Mond.

Manchmal, wenn mir die Arbeit schwer fällt und ich nicht mehr denken möchte, lese ich ein Märchen. Die Realität kommt früh genug zurück – dann, wenn ich das Buch zuklappe. Bis dahin ist Lesen meine liebste Therapie. Rufine Songue