Geduld mit der menschlichen Natur

Körper Antje Rávic Strubel erzählt raffiniert und uneindeutig vom Begehren

Für erotische Begegnungen eine kitsch- und klischeefreie Sprache zu (er)finden, ist eine Kunst, die die Schriftstellerin Antje Rávic Strubel auch in ihrem neuen Roman mit dem Titel „In den Wäldern des menschlichen Herzens“ vorführt: „Eine einzige kleine Bewegung hätte ihre Körper in Kontakt gebracht. Emily blieb still. Der Geruch, der von René ausging, war gut [...] Und dann spürte Emily die Berührung schon, ehe sie geschah. Die Ahnung, wie sich die Hände gleich von hinten um ihre Taille legen würden, ließ ihre Haut strömen, noch ehe René sie anfasste, sie fest umarmte und Emily die Nacktheit unter ihrem Kleid sehr bewusst wahrnahm.“

René ist eine Journalistin aus Berlin, Emily kommt aus L. A. Schauplatz ihrer Begegnung ist die Ostsee-Insel Hiddensee, einer der vielen Handlungsorte des Romans, der einen auch nach Schweden und in die USA führt.

Erotik, Sexualität sind zentrale Themen Strubels, zugleich entsteht darüber eine erzählerische Struktur: Sie lässt ihre Figuren in verschiedenen Konstellationen an verschiedenen Orten aufeinandertreffen. Fast immer verbindet sie ein Begehren, oder es steht seltsam kantig zwischen ihnen, wo das Fließen der Körper erhofft wird. Manchmal geht es um Liebe.

So wie zu Beginn, als René und Katja ihren zweiten Schweden-Urlaub machen. Doch die Sexualität zwischen ihnen gelingt nicht, sie basiert aus Katjas Sicht auf einem „Missverständnis“, sie kann nicht Renés „Mädchen“ sein: Es stimmt nicht mit ihrem Körperbild von sich überein, das „männlich“ konnotiert ist. Strubel deutet dies sehr fein an, um es erst viel später auf eine subtile Art offen zu legen.

Grenzen der Geschlechter

Die Grenzen der Geschlechter zu verwischen ist kein neues Anliegen der Autorin, aber in diesem Buch steht es ganz im Fokus. Heterosexualität spielt kaum eine Rolle. Helen, Emily, Sara und Faye lieben vorwiegend lesbisch; der Student Leigh, so stellt sich schließlich heraus, hat den Körper einer Frau, fühlt sich als Mann, sein Dildo ist „nicht die Hauptsache. Das war eine Ergänzung.“ Die Grenzen sind durchlässig.

Gerade im Beharren darauf erweist sich Strubel erneut als leidenschaftliche Erforscherin der „menschlichen Natur“, mit der man, wie es an einer Stelle heißt, Geduld haben müsse. Die Autorin hat sie und fragt nach den Gewissheiten, die es geben könnte im eigenen Erleben und Wünschen. Die Natur der bereisten Landschaften verheißt dabei die Möglichkeit wahrhaftigen Empfindens und wird zugleich als Projektionsfläche dieser Sehnsucht vorgeführt.

Alle Figuren Strubels sind Suchende. Sie verlassen Menschen, weil sie sich verraten fühlen; weil das Leben, wie es ist, nicht mehr gut für sie ist, versuchen sie es woanders neu und weiter. Erinnerungen kommen mit, verlassen kann man sich auf sie nicht. Bedeutsam sind sie trotzdem. Auf jeden Fall muss Unbekanntes versucht werden. Besonders in der Liebe. Und so versuchen Helen, Sara und Faye es zu dritt.

Es ist beeindruckend, wie sich die aufgeworfenen Fragen aus den Figuren und der Erzählung selbst ergeben. So kommt Strubel mit Blick auf die (Trans)Gender-Aspekte fast ganz ohne die Stichworte des gängigen Diskurses darüber aus und bereichert ihn zugleich auf literarische Weise. Carola Ebeling

Antje Rávic Strubel: „In den Wäldern des menschlichen Herzens“ Fischer, 270 S., 19,99 Euro