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Evolution Wenn Regale den Servern weichen und Bücher zu Digitalisaten werden: Der stille Wandel der Bibliotheken

Die Ober- lausitzische Bibliothek der Wissenschaften in Görlitz Foto: Imago

„Aber da spürt man doch was, das macht doch was mit einem“, sagt die Dame mit den roten Lippen im Antiquariat in der Berliner Charlottenstraße. Sie streicht über einen Ledereinband, in den Regalen dämmern Bücher aus allen Epochen im leichten Staubmief auratisch vor sich hin. Draußen vor dem Schaufenster laufen verstöpselte, über Glasflächen wischende Menschen: Sie tragen in ihren schmalen Technikhülsen ganze Büchereien mit sich herum.

„In 50 Jahren werden die Papierbestände in den Bibliotheken verschwinden“, sagt Michael Seadle und lehnt sich in seinen Sessel zurück. Er ist Professor für Digitale Bibliotheken an der Humboldt-Universität Berlin und hält wenig von der Erotisierung des Seitenblätterns: „Das ist reine Gewöhnungssache“, sagt er leicht spöttisch. Die Tablet-Kinder würden die Fixierung auf das Haptische überwinden. Die sakral-symbolischen Konnotationen, die dem gegenständlichen Buch anhaften, seien tief im kulturellen Gedächtnis verwurzelt, so Seadle. Nichts als Narrative aus einer Zeit, in der Papier als robustestes Aufbewahrungsmaterial galt, eine Prämisse, die längst ins Schwanken geraten sei: „Das Buch ist ein schlechtes Speichermedium.“ Papier saugt sich mit Nässe voll, fällt Bränden zum Opfer, braucht Platz und kann gestohlen werden: Die Materialisierung ist so gesehen die Achillesferse jedes Textes.

Das Bücherregal in Seadles Büro ist auffallend unauffällig. Klein, fast leer. Ein Laptop ruht auf massivem Holz, daneben eine angebrochene Packung giftgrüner Pralinen. Seadle erzählt, dass die Fukushima-Flutwelle 2011 einige Server lahmlegte, die tausende von digitalisierten Texten gespeichert hatten. Doch die Urkatastrophe der brennenden Bibliothek blieb aus: Dank der digitalen Kopien konnte der größte Teil des Bestandes zügig rekonstruiert werden. „Es gibt im Digitalen keine Qualitätsunterschiede“, so Seadle. Die Dichotomie zwischen Original und Reproduktion löst sich auf.

Vergilbte Raritäten strecken ihre Buchrücken den Besuchern entgegen. Hier, im Rara- und Musiklesesaal der Berliner Staatsbibliothek unter den Linden werden sie vorsichtig inspiziert. Von einem Gemälde blickt streng Alexander von Humboldt herab, eine schwere Seite wird umgeblättert, bäumt sich in Zeitlupe auf, um dann mit leichtem Knistern ihre verzierte Rückseite zu entblößen. Ein junger Mann mit Kopfhörern hat seinen Laptop auf einem Bücherstapel abgestellt, glänzendes Chrom auf faltiger Buchhaut.

Für das Entziffern einer Originalhandschrift aus dem 11. Jahrhundert ist Spezialwissen erforderlich. Großangelegte Projekte wie das „Journal Storage Program“, das in den USA bereits in den 90er Jahren lanciert wurde, machen Archivbestände aus aller Welt einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Mit modernem Schriftbild, von historischem Beiwerk befreit. Digitalisate nennt man diese ätherischen Existenzen, die raumzeitliche Hürden überwindbar machen: Ihre Standortungebundenheit macht es möglich, dass sich überall auf der Welt zeitgleich Menschen mit einem Text auseinandersetzen, der im Original im kühlen Dunkel einer einzigen Bibliothek lagert.

In den Nischen vor dem Lesesaal ist es hektisch. Wuchtige Kopierer sind blinkenden Scannerstationen gewichen. Papier wird nicht mehr auf Papier gebannt: Alte Buchseiten werden auf Platten gelegt und von Lichtblitzen auf ihren Informationsgehalt heruntergeröntgt. Die Forschenden in der Bibliothek saugen die digitalen Destillate in ihren USB-Stick. Digitale Massenproduktion – der Bestand wächst unsichtbar und stetig. Nicht für neue Bücher muss Platz geschaffen werden, sondern für neue Server.

Von den Felswänden über die Wachstäfelchen zum Papier ins Immaterielle, ins Digitale. Zu fragen bleibt: Wenn die Aura der Bücher ein kulturell bedingtes Gerücht ist, wenn der Exodus der Bücherseelen in den virtuellen Digitalisate-Himmel längst erfolgt ist, wenn in den Regalen nur noch dekorative Hüllen stehen: Warum kommen Menschen dann weiterhin in die Bibliothek?

„Die Bibliothek als Ort des kommunikativen Austauschs und der konzentrierten Stille wird bleiben“, sagt Michael Seadle. Und reicht freundlich lächelnd eine Praline. Dilbahar Askari, Ariane Hussy