Der Weg zurück

Immer mehr Spitzenwinzer schwenken radikal auf Gegenkurs zur Weinindustrie. Die Weinavantgarde wird bio. Und eso: Archaische und homöopathische Methoden sind für Terroir-geprägte Weine die perfekte Bodenpflege

VON CLEMENS HOFFMANN

Der Verkaufsschlager steht ganz unten im Regal: „Terres Fortes“, ein Bio-Landwein aus dem Gard. Die Cuvée aus Grenache und Carignan, der Liter zu 2,99 Euro, ist solide gemacht. Prima, um die Tiefkühlpizza herunterzuspülen. Aber beileibe keine Entdeckung. Trotzdem ist „Terres Fortes“ die meistverkaufte Flasche im Sortiment von Biohändler Ulrich Unbekannt. „Der Preis ist alles, auch beim Wein“, sagt der Chef von inzwischen sechs „Bio Frische“-Märkten in Berlin. Mit hellen Räumen, breiten Gängen und großzügigen Bedientheken inszeniert er Öko im Supermarkt- Ambiente.

Im Weinregal sind alle bekannten Weinregionen zu finden – Frankreich, Italien und Spanien. Es dominiert Massenware zwischen vier und sechs Euro. Aus Deutschland zum Beispiel badische und pfälzische Landweine. Bioweine aus der so genannten Neuen Welt sind nur spärlich vertreten. „Zu teuer“ winkt Ulrich Unbekannt ab. Ab zehn Euro pro Flasche werde es „sehr schwierig“. Für seine Kunden zähle vor allem der Preis, glaubt Unbekannt: Die ideologiefreien Müslis von heute greifen gern zu den günstigen Biobirnen aus Argentinien, selbst wenn die um die halbe Welt gejettet sind. Sie würden keinen teuren Biowein kaufen, nur weil es deshalb der Umwelt besser geht. Ulrich Unbekannt zeigt auf französischen Demeter-Champagner für 25,99 Euro. Auf die edlen Flaschen hat sich eine feine Staubschicht gelegt.

Von der Discounterfront zur Qualitätsspitze sind es nur wenige Stationen mit der U-Bahn-Linie 2: Das Atrium von DaimlerChrysler am Potsdamer Platz ist Schauplatz der alljährlichen „Gutsweinmesse“ des elitären Verbandes der Prädikatsweingüter (VdP). Rheingau-Winzer Peter Jacob Kühn erträgt die Untiefen solcher Veranstaltungen mit der Ruhe eines Zenmeisters. Da schwankt ein triefäugiger Endfünfziger an seinen Verkostungstisch, streckt ihm das gerade erst geleerte Rotweinglas entgegen und verlangt „ein Schlückchen“ vom Oestrich Lenchen, Kühns edelsüßer Riesling-Auslese, „zum Neutralisieren“. Kühn atmet durch, zieht ungerührt die Flasche aus dem Kühler und gießt den kostbaren Wein in die Rotweinlache des schmerzfreien Zechers.

In solchen Momenten träumt sich Peter Jacob Kühn gerne weit weg, auf seinen 15-Hektar-Betrieb in Oestrich. Mit einem Bund Birkenreisig rührt er dort Hornmist in Bottichen mit Wasser an. Immer links herum, um die kosmischen Kräfte zu bündeln. Sehr beruhigend sei das, meint Kühn. Und gut für den Wein: Der Sud wird – fein dosiert – direkt auf die Erde unter den Rebzeilen ausgebracht. „Die perfekte Bodenpflege.“ Eine ähnlich homöopathische Lösung von Hornkiesel kommt direkt auf die Reben. „Das stärkt Blüte, Fruchtansatz und Reife und macht die Pflanze widerstandsfähiger gegen Frost“, erklärt Kühn. Der vielfach ausgezeichnete Winzer aus dem Rheingau stellt seinen Betrieb gerade auf biodynamischen Weinbau um.

„Ich will mir nicht von der Industrie meine Weine diktieren lassen“, schimpft Kühn. Vor lauter Reinzuchthefen, Stabilisatoren und Konservierungsstoffen bleibe ja nichts Lebendiges mehr im Wein. Wie bei Brot, Geflügel oder Fleisch droht auch dem Wein die geschmackliche Einfalt. Und so reifte die Erkenntnis: „Da kann ich nicht mehr mitmachen.“ Erträumt hatte sich Kühn den Schritt zum Biowinzer schon länger, allerdings fehlte ihm das finanzielle Polster für die arbeitsaufwendigere Produktionsweise: Einen zusätzlichen kleinen Traktor hat er angeschafft, einen weiteren Arbeiter eingestellt. Im Bio-Weinberg wird ständig die Erde aufgelockert, werden Wildkräuter untergearbeitet – ein humusreicher, gut durchlüfteter Boden ist die Voraussetzung für gesunde, stabile Pflanzen.

Chemische Pflanzenschutzmittel und Mineraldünger sind tabu. Von Hand werden die homöopathischen Heilmittel auf den Reben versprüht. „Falls es kurz danach regnet, steht man am nächsten Tag halt wieder draußen“ sagt Kühn, der ab 2006 seine Weine offiziell als Ökoweine deklarieren darf. Aber schon in der Umstellungsphase zeigen sich Erfolge: Kühns 2004er „Oestrich Doosberg ‚Drei Trauben‘ Riesling trocken“ wurde auf der VINEXPO in Bordeaux gerade in die Top Ten der Neuentdeckungen gewählt und erhielt zudem den Preis als „Bester Weißwein“.

Kühn ist längst nicht der einzige Topwinzer, der sich zu konsequent ökologischem Wirtschaften entschlossen hat. Bei qualitativ hochwertigen Weinen geht der Trend eindeutig zum naturnahen Anbau: Im Eliteclub VdP arbeiten bereits rund zehn Prozent der Mitglieder nach Biorichtlinien. Tendenz steigend. Davon lassen sich auch weniger renommierte Winzer anstecken: Insgesamt betreiben in Deutschland etwa 350 Betriebe ökologischen Weinbau, auf insgesamt 2.000 Hektar. Das entspricht zwei Prozent der deutschen Rebfläche.

In Italien sind rund 30.000 Hektar Bio-Rebland ausgewiesen. Frankreich und Spanien kommen jeweils auf etwa halb so viel. Auch in Übersee nimmt Bio-Weinbau zu: Führend ist Kalifornien mit rund 3.000 Hektar, aber auch in Australien und Argentinien wächst die Bedeutung von „organic winemaking“. In Chile stellen gerade einige renommierte Erzeuger große Teilflächen um. Sie werden schon bald zu den größten Biowinzern der Welt gehören. Ob sich die Weine der Neuen Welt dadurch auch geschmacklich emanzipieren und sich vom bislang eher einfallslosen, internationalen Einheitsstil hin zu stärker Terroir-geprägten Weinen fortentwickeln werden, dürfte zu den spannendsten Zukunftsfragen gehören.

In Deutschland wurden in den Siebzigerjahren Ökopioniere wie Otto- Heinrich Sander aus dem rheinhessischen Mettenheim als Spinner abgetan, ihre Weine belächelt. In der letzten Dekade hat es jedoch einen massiven Qualitätssprung und eine enorme Imageaufwertung gegeben. Einer der Spitzenreiter ist Philipp Wittmann aus dem rheinhessischen Westhofen. „Seit wir ökologisch wirtschaften, sind unsere Weine immer besser geworden“, erklärt der 31-Jährige selbstbewusst. Mitte der Achtzigerjahre stellten seine Eltern, Günter und Irmgard Wittmann, den Betrieb auf Bio um, seit 1990 sind sie Mitglied im Anbauverband „Naturland“, der wie Bioland, Demeter, Ecovin oder Gäa penibel über die Einhaltung der Anbauregeln wacht. „Wir betreiben einen Weinbau von gestern“, sagt Philipp Wittmann. „Mit schwachwüchsigen, nicht überzüchteten Reben, die geringe Erträge bringen, aber sehr widerstandsfähig sind.“

In den ersten beiden Jahren ohne Giftspritze gab es Probleme mit der Peronospora viticola, dem Falschen Mehltau: Die Ernte fiel mager aus. Aber Wittmanns Spitzenlagen, der „Westhofener Morstein“, das „Kirchspiel“ und die „Aulerde“ verfügen über ein gutes Kleinklima, sind nicht zu kühl und nicht zu feucht – so ist der Pilz mit sanften Mitteln zu bändigen. Seit zwei Jahren wendet Philipp Wittmann zunehmend biodynamische Erkenntnisse an. Wie Ebbe und Flut folge schließlich auch das Pflanzenwachstum kosmischen Kräften, glaubt Wittmann, und deshalb beachtet er bei der Traubenernte die Mondphasen. Statt Mineraldünger schwört auch Wittmann auf die so genannte Vitalisierung der Reben mit Hornmist und Hornkiesel: „Zum Zeitpunkt der Reife bündeln die kristallinen Kiesel die Sonnenkräfte“, erklärt er – und schiebt sogleich nach: „Ich habe Probleme, wenn es zu esoterisch wird.“ Wie auch immer: Seine ausdrucksvollen Rieslinge, herben Weißburgunder und wuchtigen Chadonnays überzeugen zuerst durch ihren Geschmack.

Auch der 2002er „Grotte Rosse“, der Spitzenwein des toskanischen Familienweinguts Salustri, ist einer dieser Mondweine. Lediglich 2.000 Flaschen gibt es von ihm. Die Reben der Sorte Sangiovese sind über fünfzig Jahre alt; genau so lange schon werden sie ausschließlich biologisch gepflegt. Das Weingut thront auf einem Hügel in Poggi del Sasso, einem 800 Jahre alten Bergdorf in der noch weithin unbekannten Toskana-Weingemarkung „Montecucco“. Zikaden sägen, Wind fächelt vom zwanzig Kilometer entfernten Mittelmeer durch Oliven- und Zypressenhaine.

Betrieben wird das Weingut von Leonardo Salustri und seiner Frau Nara und seinem Sohn Marco Salustri; Öko-Weinbauern sind sie bereits in der zweiten und dritten Generation. Wie bei ihren Olivenbäumen setzt die Familie auch beim Weißwein einzig auf heimische Sorten wie Vermentino, Trebbiano und Malvasia. Und beim Rotwein auf den Sangiovese, den sie mit kleinen Mengen der Sorte Ciliegiolo verschneidet. Wissenschaftlich begleitet von Önologen der „Facoltà di Agraria“ in Pisa, versuchen Vater und Sohn die Trauben mit minimalem Maschineneinsatz in den Keller und von dort in die Tanks und Fässer zu bekommen.

Gelesen wurden die Sangiovese-Trauben bei günstigem Mond Mitte September. 25 Tage durfte der „Grotte Rosse“ im Eichenfass bei unter 30 Grad gären. Anschließend konnte der Wein in aller Ruhe 18 Monate in Barriques reifen. Im Mund verströmt er sein betörendes und konzentriertes Aroma. Die Tannine sind durchaus präsent. Mit seinem stabilen Säure-Rückgrat hat „Grotte Rosse“ ein gutes Lagerpotenzial. Stolze 20 Euro kostet die Flasche ab Hof, ist dafür aber – nicht nur geografisch – kilometerweit entfernt von so manchem Verkaufsschlager im Bio-Supermarkt.

CLEMENS HOFFMANN, 35, ist freier Journalist in Berlin