Die neue Sachlichkeit

Stilvoller Wein ist eigen und selbstbewusst. Wer das Etikett „internationale Klasse“ anstrebt, erntet gleichförmiges Mittelmaß

VON STEPHAN REINHARDT

Vielleicht sind es die Fragen, die das, was Weinkultur eigentlich sein könnte, desavouieren. Zum Beispiel die Frage nach dem besten und größten Wein. Sie lässt sich, je nach Gusto und Gemüt, schnell beantworten, weil sie auf das scheinbar Offensichtliche und Eindeutige zielt. Eine andere, ebenso problematische Frage ist die nach der internationalen Vergleichbarkeit lokal und regional erzeugter Produkte. Vor einigen Tagen hatte das Mitte Oktober auf n-tv startende Fernseh-Weinmagazin „Vinum TV“ eine Reihe von Weinexperten aus den Bereichen Gastronomie, Handel und Medien an einem Tisch versammelt, um zusammen mit dem Fernsehmoderator Ulrich Kienzle (u. a. Frontal) der Frage nachzugehen, ob deutscher Rotwein internationale Klasse habe. Dazu wurden rund vierzig in deutschen Medien punkt- und preisgekrönte deutsche Rotweine der letzten Jahre verkostet, überwiegend Spätburgunder des außergewöhnlichen Jahrgangs 2003, dazu einige weitere aus 2001 und 1999 sowie ein halbes Dutzend Cuvées allemandes mit auch internationaler Sortenbeteiligung wie Cabernet und Merlot. Ungeklärt blieb zwar bis zuletzt, was unter „internationaler Klasse“ eigentlich zu verstehen sei, aber einige Verkoster waren sich in der Antwort dennoch sicher: Nein, diese Weine können sich international nicht sehen lassen, sagte etwa eine in Deutschland lebende Master of Wine. Dagegen meinte Moderator Kienzle, von dem der Satz überliefert ist, das Einzige, was er einmal zurücklassen werde, seien 10.000 leer getrunkene Flaschen Wein: „Ich habe gar nicht gewusst, dass es in Deutschland derart gute Rotweine gibt.“ Ansonsten gab es fast so viele Einschätzungen wie Weine, und das spiegelt wohl auch die Unsicherheit, die sich mit der Kategorisierung „international“ verbindet.

Bezieht sich der übrigens auch in Österreich und der Schweiz gern bemühte Terminus von der „internationalen Klasse“ auf die Qualität? Wenn ja, was würde man unter internationaler Qualität verstehen? Ein von allem Nationalpatriotismus befreites, Grenzen überschreitendes, allgemein gültiges Geschmacksurteil? Einen Wein, der sich von seiner Herkunft und Kultur emanzipiert hat und in das Reich des globalisierten, einheitlichen Geschmacksstandards eingezogen ist? Wenn sich deutsche Weine mit Weinen aus anderen Ländern der Welt vergleichen oder gar messen lassen können müssen, in welcher Währung würde man einen solchen Vergleich ziehen wollen? Bedeutet Vergleichbarkeit die Nivellierung des Unterschieds, Austauschbarkeit?

Die Frage nach der Internationalität zielt nicht auf das Individuelle, sondern auf Standards. Und tatsächlich, die Weinwelt ist voll von Standards, sowohl bei der Kultivierung der Weinreben (Bodenbearbeitung, Ertragsregulierung, Auswahl der Rebsorten) als auch bei der Weinbereitung (Mostbehandlung, Reinzuchthefen, Temperaturregulierung während der Gärung, Edelstahltanks, Barriques). Sogar das Geschmacksdesign der Weine ist vereinheitlicht worden, seit die Vorlieben der Konsumenten exakt vermessen werden.

Weltweit gibt es mehr als zweitausend kultivierte Rebsorten, doch seit Jahren vollzieht sich ein Konzentrationsprozess zugunsten einiger weniger Sorten, insbesondere Cabernet, Merlot, Syrah alias Shiraz, Pinot noir, Chardonnay oder Sauvignon blanc. Diese Big Six werden inzwischen in fast allen Weinbau betreibenden Ländern angebaut und besitzen sogar so etwas wie Markencharakter. Die einstmals im Zusammenhang mit ihrer klassischen Herkunft und Tradition stehende Stil- und Geschmacksvielfalt dieser Sorten, die sich nuanciert äußerte und deren weltweiten Ruhm begründet hatte, wird mit Hilfe moderner Weinbaumethodik und Kellertechnik nicht nur in der industriellen Massenproduktion, sondern längst auch in Kleinbetrieben auf wenige, unmittelbar zugängliche und gefallende Eigenschaften verengt. Aus dem Hauch von Holunderblüten wurde ein Meer blühender Holunderbüsche, aus dem Duft frischer Johannisbeeren eine dicke Cassissoße, aus Assoziation das Plakative, aus der Divergenz die Kongruenz. Zum Original verhalten sich diese ihrer Geografie und Tradition gänzlich enthobenen Weine wie ordinäre Imitate: körperreich, fruchtsüß, dicht, aufgepumpt und zugeholzt. Gleichwohl sind diese technisch einwandfreien Weine auf dem Markt erfolgreich. Solange das so bleibt, gibt es für die Produzenten keinen Anlass, ihre Rezepturen zu ändern.

Doch jede Bewegung generiert Gegenbewegungen. Der Exzess steigert sich so lange in die nächste Dimension, bis er an seine Grenzen gerät, der Wein aufgrund maßloser Extraktion und Konzentration seine Trinkbarkeit verliert. Diesen abstrus überladenen, manipulierten Weinmonstern werden weltweit inzwischen wieder bewusst traditionell erzeugte Weine entgegengestellt, die eher schlank und puristisch sind und über Frische, Eleganz und Originalität verfügen. Darüber hinaus geraten Weine aus autochthonen, regionalen Rebsorten in den Fokus des Interesses und damit auch „neue“ Anbaugebiete, selbst wenn sie in Wirklichkeit zu den ältesten überhaupt zählen: Griechenland, Sizilien, Kampanien, Douro, Mosel, Saar, Ruwer … Diese Gegenbewegung stellt den Begriff der Authentizität gegen jenen der Internationalität und bemüht sich darum, sich auf dem hart umkämpften Weinmarkt über regionale und kulturelle Besonderheiten zu profilieren. Dabei wird neben der Betonung der handwerklichen, von Manipulationen befreiten Erzeugung die geografische Herkunft bis in ihre kleinste Einheit, die Einzellage oder gar die Parzelle, herausgearbeitet und beworben. Das ist übrigens eine sehr deutsche Tradition, und es wundert daher nicht, dass auch deutsche Winzer an der Spitze dieser Gegenbewegung stehen.

Diesen Weinen gelten Harmonie, Trinkbarkeit und Herkunftscharakter als höchste Tugenden. Der neuen Sachlichkeit bei den Konzepten entsprechen die Methoden bei der Weinerzeugung. Dem Wein nichts wegnehmen, aber auch nichts hinzusetzen zu wollen entspricht ebenfalls alter deutscher Winzertradition. Insbesondere junge Winzer formulieren diese Philosophie wieder. Dirk Würtz aus dem rheinhessischen Gau-Odernheim etwa nennt sein auf Qualität und Typizität gerichtetes Konzept „Heimatwein“ und macht damit deutlich, dass Wein mehr ist als das Ergebnis von Trauben und Sonnenlicht.

Vor allem mit Rieslingen haben deutsche Produzenten an Profil gewinnen können, indem sie einen Stil (re)kreierten, der der kristallinen Reinheit und aromatischen Fülle dieser Sorte so vortrefflich entspricht. Wie Roman Niewodniczanski vom Weingut Van Volxem an der Saar zu Recht betont, ist es das besondere Klima, das eine mitunter extrem lange Vegetationszeit bedingt und den Trauben ganz zum Schluss, meist erst im November, eine innere Dichte und geschmackliche Komplexität verleiht, die nicht vom Zuckergehalt, sondern von den aus dem Boden gelösten Mineralstoffen abhängt. Diese Weine zu erzeugen bedeutet, ein enorm hohes Risiko einzugehen, aber nur so erlangen sie jene geschmackliche Fülle und Transparenz, die nur an wenigen Orten der Welt in ähnlicher Weise erreicht wird.

Was aber für den Riesling gilt, muss für Rotweine aus Deutschland nicht ausgeschlossen sein. Immerhin ist hierzulande mit dem Spätburgunder eine der feinsten roten Rebsorten der Welt integraler Bestandteil der Weinkultur. Gleichwohl sind die Böden und Klimata zwischen Ahr und Kaiserstuhl höchst unterschiedlich und nirgends so wie an der Côte d’Or, der Wallfahrtsstätte aller Pinot-Enthusiasten dieser Welt. Aber ist das ein Mangel?

Nicht in die n-tv-Kamera, aber mit klugen Worten sagte ein auf feine Weine spezialisierter Händler vom Bodensee, die „Vinum TV“-Probe resümierend: „Die deutschen Winzer sollten nicht den Fehler begehen, unbedingt körperreiche und voluminöse Weine erzeugen zu wollen. Ihre Stärke sind frische, elegante und finessenreiche Weine. Diesen Stil können sie liefern, und zwar in bester Qualität.“

Dem ist eigentlich nur noch das Heureka eines italienischen Winzers aus den Abruzzen hinzuzufügen, der am Tisch eines sehr guten italienischen Restaurants in Hamburg einen italienischen Spitzenrotwein nach dem anderen zurückgehen ließ, weil er so gar keinen Gefallen an den Weinen finden konnte. Schließlich brachte ihm der Wirt, Italiener auch er, eine gewaltige bauchige Flasche mit fürchterlich altmodischem Etikett und schenkte seinem Gast einen erdbeerfarbenen, fast wie Hagebuttentee aussehenden Wein in den Kelch. Der Winzer schaute überrascht, schnupperte, trank und sagte: „Schöne, frische Frucht, elegant, fein und ausgewogen – das will ich trinken, alles andere bekomme ich überall auf der Welt.“ Der Wein war ein Spätburgunder 2001 aus dem Oberrotweiler Kirchberg am Kaiserstuhl.

Es geht beim Wein eben nicht um das Beste, das Exzessive. Wichtig ist das Andere, das Distinktive. Und das äußert sich auf elegante, maßvolle und ausgewogene Art.

STEPHAN REINHARDT, Jahrgang 1967, lebt in Hamburg und ist Weinautor für überregionale Zeitungen und Fachzeitschriften