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Wie kann man nur an das Erzählte glauben?

Überlieferung Der französische Autor Emmanuel Carrère schafft es nicht, ein gläubiger Christ zu sein, und erweitert die Grenzen der literarischen Gattungen: „Das Reich Gottes“

Schweden, Handlungsort bei Antje Rávic Strubel Foto: P. Lopparelli/Tendance floue/Agentur Focus

von Hanna Engelmeier

Es ist ganz einfach, nicht an Gott zu glauben: Nachrichten, Geschichte, U-Bahn-Fahrten an nicht so guten Tagen – alles spricht dafür. Vor allem spricht vieles dafür, nicht glauben zu wollen, das Enttäuschungspotenzial ist zu hoch. Noch einfacher ist es, nicht in der Kirche sein zu wollen: einem in vieler (nicht jeder) Hinsicht traditionell unsympathischen Team seit 2.000 Jahren.

Warum entschließen sich Menschen trotz allem und immer noch dazu, sich ausgerechnet zum Christentum zu bekennen? Andere Religionen haben doch auch Nächstenliebe im Programm. Mal abgesehen von allem kulturhistorischen Beiwerk, das auch nicht eben leicht wirkt: Wie und warum zum Teufel soll man es schaffen, mit ganzem Herzen daran zu glauben, dass die Letzten die Ersten sein werden und dass das an einer Macht liegt, die alle Haare auf unserem Kopf gezählt hat und in der wir vertrauensvoll ruhen können, wenn um uns herum alles Chaos ist?

Das ist die Grundfrage in Emmanuel Carrères neuem Buch, „Das Reich Gottes“. Der Autor, Franzose, 1957 geboren und gerade der große Geheimtipp der Saison, beschreibt, wie er sich in den 1990er Jahren in einer tiefen persönlichen Krise dem christlichen Glauben zuwendet. Nach drei Jahren intensiver Auseinandersetzung mit seiner Religion bemerkt er, dass er es nicht schafft, auf Dauer ein gläubiger Christ zu sein. Er fällt vom Glauben ab, aber erst dadurch wird der Weg frei für eine Nacherzählung des Lebens derer, die als Erste versuchten, in der Nachfolge von Jesus Christus ein Projekt radikaler Nächstenliebe als Religion zu etablieren.

Die Rede ist von Apostel Paulus und dem Evangelisten Lukas, deren Umgang mit den ersten urchristlichen Gemeinden einen großen Teil des Buches ausmacht. Mit leichter Hand verwebt Carrère seine eigene Vorstellung davon, wie diese Männer leben und durch den Nahen Osten der Antike reisen, mit neuerer und älterer Forschung zum Thema, immer wieder bildet er ihre Lebensumstände auf seine eigenen ab und aktualisiert damit ihre und seine Glaubensgeschichte gleichermaßen.

Das Thema scheint nicht unbedingt als fesselnder Page­turner geeignet zu sein und ruft Erinnerungen an Gustav Schwabs Nacherzählungen klassischer Sagen des Altertums wach – muss ja nicht sein. Aber Carrère hat es geschafft, diese Figuren mit einer eigenen Stimme auszustatten, die aus der Nähe zu einem spricht, im Fall der deutschen Übersetzung in der unglaublich anmutigen Diktion von Claudia Hamm. Um Grundkonflikte von Nächstenliebe, Glauben und den Erzählungen davon zu schildern, ist es für Carrère zwingend, auf diesen sperrigen, durch vielfache Überlieferung überkomplexen Stoff zu setzen.

Denn bei dem „Reich Gottes“, das das Christentum in der Lesart Carrères von Anfang an verkündet, geht es um das, was ihn als Autor am meisten interessiert: dass es sich bei diesem Reich um „die Wirklichkeit der Wirklichkeit“ handele, ist bereits ein Zitat aus „Limonow“, einem der vorangegangenen Bücher Carrères. Er knüpft hier in vieler Hinsicht an seine Versuche an, alle bekannten Beispiele der Vermischung, Ausweitung und Sprengung der Grenzen literarischer Gattungen zu überbieten. Das Thema des Glaubens bietet sich nicht nur deshalb dafür an, weil es dabei schwierig ist, nicht in peinliche Bekenntnisse zu verfallen oder überhebliche Berichte über Safaris in vermintes Gelände zu abzuliefern, wie sie beispielsweise entstehen, wenn sich der Regisseur Ulrich Seidl in seinem Film „Paradies: Glauben“ dem österreichischen Katholizismus als Unterdrückungsapparat widmet. Glauben ist für Carrère auch darum ein zentrales Thema, weil in jedem seiner Bücher auf andere Weise die Frage gestellt wird, wie man den Glauben an das Erzählte aufbauen kann und damit seinen Unglauben gegenüber der bloßen Behauptung der Literatur, „das ist jetzt halt die Wirklichkeit“, aufgibt.

Das ist ein altes Problem, das von dem Dichter Samuel Taylor Coleridge als willing suspension of disbelief (willentliches Ablegen des Unglaubens) bezeichnet wurde und das in den Besprechungen zu den Büchern Carrères immer wieder auftaucht. Im „Reich Gottes“ treibt Carrère dieses Prinzip nun auf die Spitze des Zumutbaren und an die Grenze des Erträglichen. Damit fordert er zuerst einmal sich selbst heraus: „Ich schreibe dieses Buch, um mir nicht einzubilden, als Nichtmehrgläubiger mehr zu wissen als jene, die glauben, und als ich, als ich selbst noch glaubte. Ich schreibe dieses Buch, um mir selbst nicht zu sehr recht zu geben.“

Dieser Versuch führt den Autor Carrère an keine besonders exotischen Orte, er liegt auf der Couch einer Psychoanalytikerin, liest im Café oder arbeitet zu Hause am Schreibtisch. Einmal zieht er sich zu Exerzitien in ein Kloster zurück, zum Ende des Buches beschreibt er, wie er eine Fußwaschung vornimmt und widerwillig an einer Polonaise zu christlichen Liedern teilnimmt.

Geschildert wird eine intellektuelle Seelenwanderung der Autorfiktion, zu der sich Carrère gemacht hat: vom Unglauben in den Glauben und zurück. Am Ende wird die Frage, ob er dabei das Heil gefunden habe, mit nur einem Satz beantwortet: „Ich weiß es nicht.“ Dass dieser Satz als gedruckter Text stehen bleibt, ist allerdings eine eigene Art von Heil, zumindest für Carrères Publikum.

Emmanuel Carrère: „Das Reich Gottes“. A.d. Franz. v. Claudia Hamm. Matthes & Seitz, Berlin 2016, 524 S., 24,90 Euro

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