LeserInnenbriefe
:

taz.die tageszeitung | Rudi-Dutschke-Str. 23 | 10969 Berlin

briefe@taz.de | www.taz.de/zeitung

Die Redaktion behält sich Abdruck und Kürzen von Leserbriefen vor.

Die veröffentlichten Briefe geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Wer hilft den Flüchtlingen?

betr.: „Flüchtlingskrise. Alternativloser Gipfel“, taz vom 18. 3. 16

Spätestens nach den Wahlen hat das System Erdoğan den Pfad der Demokratie verlassen . Es ist ganz klar. Nach dem Rumwüten seiner Truppen in der Südosttürkei wird er nie wieder so viele kurdische Wählerstimmen erhalten wie noch im November. Auch der Schlag gegen die „rechte“ Partei (rechter als Erdoğan geht nicht mehr) zeigt, dass er sämtliche Oppositionen zerschlagen will. Ökonomisch steht die Türkei derzeit schlecht da: Die Handelspartner zwischen Schwarzem Meer und der Seidenstraße leiden unter dem Ölpreisverfall, die U-Bahn unter dem Bosporus, von den Japanern gebaut, ist noch nicht bezahlt, der Tourismus erlebt einen Niedergang.

Das System Erdoğan kann die EU-Milliarden gut gebrauchen, um den neuen Flughafen zu bauen. Der Handel um Flüchtlinge mit diesem Despoten ist an Zynismus kaum zu überbieten. Wer unterstützt Griechenland, die es ökonomisch nie schaffen können, dieser humanitären Katastrophe Herr zu werden.

Ausgemerkelt, liebe Grüne in Berlin und Stuttgart! Frau Merkel hat (nicht nur) in der Griechenlandkrise viel ökonomisches Porzellan zerschlagen. Orban, Le Pen, vielleicht sogar ein unsäglicher AfD-Politiker in Thüringen schauen wohl schon einmal interessiert zu, wie Erdoğan seine Macht absichert. Wir brauchen jetzt und sofort den friedlichen Aufstand aller Anständigen in Europa. Damit Humanität und der Schutz der Menschenrechte wieder absolute Priorität für Regierungshandeln wird. Für mich war Europa immer mehr als ein Wirtschaftsverein (der ja nicht funktioniert). Wer hilft eigentlich den Flüchtlingen?

Urlaub in Österreich ist auf lange Jahre gestrichen.

DIETMAR RAUTER, Kronshagen

Nebulöse Grübeleien unnötig

betr.: Der misstrauische Souverän“, taz vom 19. 3. 16

Man muss im Falle der SPD keine nebulösen Grübeleien über die Reduzierung von Komplexität in der Politik anstellen, um den Ansehensverlust dieser Partei zu erklären. Hierfür gibt es nämlich klare Fakten, die auf der Regierungstätigkeit der SPD seit der zweiten Amtsperiode ab 2002 der Schröder-Regierung basieren. Nichts deutete seinerzeit im Wahlkampf 2002 darauf hin, dass die SPD-geführte Bundesregierung mit den Hartz-IV-Gesetzen und der „Flexibilisierung“ des Arbeitsmarktes, flankiert von massenhafter Leih- und Zeitarbeit sowie „1-Euro-Jobs“, Millionen von Menschen in prekäre Beschäftigung zwingen würde. Gleichzeitig wurden mit der drastischen Kürzung der Leistungen der Arbeitslosenversicherung die berechtigten Ansprüche von lohnabhängig Beschäftigten geradezu pulverisiert und so die Arbeitslosenversicherung diskreditiert.

Weiterhin wurde unter der Regie der Gesundheitsministerin Schmidt, was bis dahin undenkbar war und nicht einmal die Kohl-Regierung gewagt hatte, die paritätische Finanzierung der gesetzlichen Sozialversicherung mit der Einführung des Zusatzbeitrags in der Krankenversicherung einseitig zulasten der Arbeitnehmer aufgegeben. Damit aber nicht genug. Der „sozialdemokratische“ Arbeitsminister Müntefering hatte es sich in der Großen Koalition ab 2005 zur Lebensaufgabe gemacht, mit der Einführung der „Rente mit 67“ das Rentenniveau zu senken und die Renten ungeniert zu kürzen. Dies sind nur einige, aber gleichwohl bedeutsame Beispiele für knallharte neoliberale Politik, mit der die deutsche „Sozialdemokratie“ jeden Anspruch auf Glaubwürdigkeit verloren hat.

Dass sich diese Partei, die mit ihrer Gesetzgebung einen bis dahin in diesem Umfang unvorstellbaren Niedriglohnsektor erst möglich gemacht hat, dann wenig später für die Einführung eines Mindestlohns einsetzt, ist ein durchschaubares populistisches Manöver, abgesehen davon, dass auch vom Mindestlohn selbst bei Vollzeitbeschäftigung kein Mensch auskömmlich leben kann.

Viele Menschen erkennen mittlerweile unter dem vermeintlich „sozialdemokratischen“ Schafspelz, den sich die SPD vor Wahlen gern umhängt, den neoliberalen Wolf, der sich einen Kehricht um Arbeitnehmerrechte schert. Diese Einschätzung bestätigt der SPD-Vorsitzende und Wirtschaftsminister Gabriel in vollem Umfang. Gabriels Ministerium hat das Fracking gegen alle nachweisbaren Umweltrisiken erlaubt, und Herr Gabriel ist der glühendste Befürworter des Freihandelsabkommens mit den USA. Mit TTIP, das wissen wir heute, werden zugunsten von US-Investoren die demokratischen Institutionen und die Rechte der Menschen in Deutschland ausgehebelt. Es war für mich noch vor nicht allzu langer Zeit ausgeschlossen, dass ausgerechnet ein „sozialdemokratischer“ Minister die Durchsetzung eines solchen Abkommens in Geheimdiplomatie derart vehement und gegen alle Bedenken der Mehrheit der Menschen in Deutschland betreiben würde.

Die SPD versucht sich entgegen ihrem tatsächlichen Regierungshandeln noch immer in dreister Weise als „Anwalt der kleinen Leute“ zu gerieren. Diesen Unfug nehmen der Partei immer weniger Menschen ab. Die FDP hat bei der Bundestagswahl 2013 vom Wähler die Rückmeldung bekommen, dass die Zustimmung zu neoliberaler Politik unterhalb dessen liegt, was notwendig ist, um überhaupt ins Parlament einzuziehen. Eine solche Quittung verdient auch die SPD. Sollte Herrn Gabriel auf Bundesebene die Wiederholung seines einmaligen Kunststücks bei der Landtagswahl 2003 gelingen, als er aus der Position des Ministerpräsidenten von Niedersachsen heraus mal eben satte 15 Prozent verlor, wäre ein solches Szenario nicht völlig ausgeschlossen und mehr als überfällig. WERNER BURHENNE, Göttingen