„Keinen Christus und keine Stiefel“

Als russischer Soldat hat Victor Baldin ausgelagerte Zeichnungen der Bremer Kunsthalle nach Moskau gebracht. Mit dem Wunsch, sie später zurückzugeben. Jetzt setzt sich seine Witwe für die Rückgabe ein. Sie selbst kennt Deutschland als verschleppte Zwangsarbeiterin

Er reist nach Moskau, um sie dem Architektur-Museum anzubieten. „Was wollen sie dafür haben?“, fragt man ihn. „Nichts“, sagt Baldin. „Ich will bloß nicht, dass sie verschwinden“.

Von Friederike Gräff

Natürlich gibt es manchmal Frauen, die das Erbe ihres Mannes fortsetzen. Witwen, die Musik oder Texte verwalten, manchmal sogar Staaten. Aber es ist selten, dass dieses Erbe sie zur Fürsprecherin des Landes werden lässt, das ihnen einen Teil ihres Lebens gestohlen hat. „Es ist die Hauptsache meines Lebens, es so zu machen, wie mein Mann es wollte“, sagt Julia Baldin.

Victor Baldin wollte, dass die Zeichnungen, die er 1945 als russischer Soldat aus Deutschland mit nach Moskau nahm, zurück nach Bremen kämen. Aber was zählt das Wort eines Einzelnen in einer Diskussion über Gerechtigkeit nach einem Weltkrieg, in einer Debatte, die bis heute voller Zorn geführt wird. Julia Baldin ist 80 Jahre alt und vielleicht hat man in diesem Alter keine Geduld mehr für festgefahrene Debatten.

Sie eine lebhafte, zarte Dame, ihr Deutsch ist fließend. Sie hat es in der Schule gelernt, bis man sie als 16-Jährige zur Zwangsarbeit nach Dresden verschleppt hat. Julia Baldin erzählt gerne. Weil es das Letzte ist, was sie für ihren Mann tun kann. Und vielleicht auch deshalb, weil es eine Geschichte ist, die Grauenhaftes und Rührendes so sonderbar vermischt. Victor Baldin, sagt seine Witwe, ist 1945 auf der Suche nach einem Quartier für sein Bataillon in ein Schloss bei Kyritz geraten. Ein Schloss mit großem Park und Jagdtrophäen im dritten Stock, das einem alten Grafen gehörte. Victor Baldin, klein und mit Brille, habe in seinem Schul-Deutsch zu dem Grafen, der ihn weit überragte, gesagt: „Graf, nehmen Sie mit, was Sie wollen, anschließend bringen wir Sie weg“. Der Graf antwortete ihm: „Wir brauchen nichts von den Russen“, erzählt Julia Baldin und zuckt mit den Schultern.

Am 4. Mai 1945 quartieren sich die Offiziere des Bataillons im Schloss ein, der Graf nimmt sich am nächsten Tag das Leben. Baldin lebt nicht wie die anderen Stabsoffiziere im Schloss, sondern kampiert bei den Soldaten im Wald. Er ist nicht dabei, als ein Bediensteter des Grafen betrunken erzählt, dass der Graf etwas im Keller hinter einer zugemauerten Wand verstecke. Er weiß nicht, dass die Bremer Kunsthalle 5.000 Stücke aus ihrem Bestand zum Schutz vor Luftangriffen in das Schloss geschickt hat. Er sieht auch nicht das Auto, das in der Nacht davonfährt und mit ihm möglicherweise die vierzig Gemälde von Monet, Renoir und anderen, von denen einige später mit dem Stempel der Bremer Kunsthalle in anderen Museen auftauchen werden.

Victor Baldin ist einer der letzten, der den aufgebrochenen Keller betritt. Überall auf dem Boden liegen Zeichnungen herum, einer der Soldaten zündet eine an, um zu sehen, was noch in den Regalen liegt. Baldin hat Architektur studiert, er versteht etwas von Kunst, selbst in diesem Krieg hat er seine Zeichensachen dabei und macht Skizzen von den Soldaten. Er hebt drei Zeichnungen auf, sie sagen ihm nichts, dann nimmt er eine weitere: Es ist eine Zeichnung von Rembrandt, dann eine von Rubens, eine von Dürer. „Alle raus“, schreit er die Soldaten an, lässt einen zur Wache vor dem Keller stehen und geht zu seinem ersten Offizier. „Man muss diese Bilder retten“, sagt er. „Geben Sie mir eine Ecke in dem Lastwagen.“ – „Guck aus dem Fenster“, sagt der Offizier und Baldin sieht die Lastwagen voller Möbel und Teppiche, die aus dem Schloss transportiert werden. Baldin geht in den Keller und schneidet die ganze Nacht über mit einem kleinen Messer die Bilder aus ihren dicken Passepartouts.

Die Zeit reicht nicht für alle, etwa 50 muss er im Keller lassen. Die übrigen steckt er vorsichtig in einen Koffer und tritt am nächsten Tag mit seinem Bataillon den Rückzug nach Russland an. Der Marsch dauert einen Monat. Baldin sieht, dass viele der Soldaten Aktzeichnungen über ihren Schlafplatz hängen, aber es sind nicht die üblichen Fotos, es sind Zeichnungen von van Dyk und Rubens. „Du musst sie mir geben“, sagt Baldin den Soldaten und bietet an, was er noch zum Tausch hat: Erst Geld, dann seine Uhr, die Feldtasche. Er handelt drei Tage mit einem Offizier um einen Christuskopf von Dürer.

„Mein Mann hat so geschimpft“, sagt Julia Baldin. „Der Christuskopf lag mit der Bildseite nach unten in einem Koffer und die Augen war ganz verlaufen.“ Schließlich bekommt er ihn für ein Paar Stiefel. „Er hat ihn dem Architekturmuseum gegeben“, sagt Julia Baldin. „Und dann hatte er keinen Christus und keine Stiefel. Aber es war wirklich ein Sieg“. Am Ende bringt Baldin zwei Gemälde und 362 Zeichnungen nach Russland.

Aus der Armee entlassen beauftragt man ihn, eine Akademie für Restaurateure in Sagorsk einzurichten. Er bezieht ein 12 Quadratmeter großes Zimmer, organisiert die Schule und verbringt seine freie Zeit damit, eine Aufstellung seiner Bilder zu machen: Maler, Datierung, Material. Zwei Jahre dauert die Arbeit. Er zeigt die Zeichnungen Freunden aus dem Architekturinstitut. Ein Sammler möchte ihm Bilder abkaufen. „Das kann ich nicht machen“, sagt Baldin. Er reist nach Moskau, um sie dem Architektur-Museum anzubieten. „Was wollen sie dafür haben?“, fragt man ihn. „Nichts“, sagt Baldin. „Ich will bloß nicht, dass sie verschwinden“.

Sie verschwinden für 46 Jahre in einem Safe. Man bedeutet Baldin, darüber zu schweigen. Es ist kalter Krieg. Baldin ist Kommunist. Er würde niemals seinem Land vorgreifen. Stattdessen schreibt er Briefe an die Politiker, an die Kulturminister: Er habe diese Gemälde aus Deutschland gerettet, nun müssten sie zurückkehren. 50 Jahre lang antwortet man ihm gar nicht oder hinhaltend. Baldin wird zum Direktor des Architekturmuseums berufen und eine seiner ersten Amtshandlung ist es, die russischen Stempel, die sein Vorgänger angebracht hat, wieder zu entfernen. 1962 trifft er Julia Siwakowa, die für sein Haus Architekturmodelle baut. Eigentlich ist sie Textiltechnikerin. Nach drei Jahren Zwangsarbeit in Deutschland mit zwölf Stunden Arbeit pro Tag, den Erdlöchern, die man ihnen als Zuflucht vor den Bomben anbot, gilt sie in Russland als Feindin.

„Wo ist meine Schuld“, fragt sie, wo keine ist. Studieren lässt man sie dennoch nicht. 1967 heiratet sie Victor Baldin. Eine Woche nach der Hochzeit zeigt er ihr die Zeichnungen. Dürer. Sie ist sprachlos. „Es war mir lieber als Theater“, sagt sie. Die Öffentlichkeit bekommt die Zeichnungen nicht zu sehen. Offiziell gibt es keine Beutekunst in Russland.

Er sieht auch nicht das Auto, das in der Nacht davonfährt und mit ihm möglicherweise die vierzig Gemälde von Monet, Renoir und anderen, von denen einige später mit dem Stempel der Bremer Kunsthalle in anderen Museen auftauchen werden.

1985 lernt Viktor Baldin Dörte Bonac von der Gesellschaft für deutsch-russische Freundschaft kennen. 1989 besuchen die Baldins sie in Düsseldorf. Abends im Schlafzimmer sagt Julia Baldin: „Sie wird deine Geschichte verstehen, sagen wir ihr es“. „Es ist unmöglich“, sagt ihr Mann. „Du bist so pessimistisch“, sagt seine Frau. „Und wenn wir in den Gulag kommen sollten, gehen wir zusammen“.

Victor Baldin zögert. Am dritten Abend sagt sie: „Wenn du es nicht erzählt, erzähle ich es“. Und dann erzählt er die Geschichte. Einer Deutschen. Nach 44 Jahren. Dörte Bonac macht ein Treffen mit Siegfried Salzmann, dem Direktor der Bremer Kunsthalle, aus. Baldin sitzt mit ihm vor dem Katalog mit den verschollenen Kunstwerken. „Das habe ich“, sagt er und tippt auf ein Bild. „Und das und das und das“. Baldin bittet Salzmann, zu schweigen. Und lädt ihn nach Moskau an, um sich die Fotos anzusehen, die er von den Bildern gemacht hat. Baldin schreibt drei Briefe an Michail Gorbatschow, zwei weitere an Raissa Gorbatschowa, aber er erhält keine Antwort. Anlässlich des Jahrestages des sowjetischen Sieges über Hitler-Deutschland kommt ein Journalist zu den Baldins. Nein, er habe keine Geschichte dazu, sagt Victor Baldin. „Doch“, korrigiert ihn Julia Baldin. Der Journalist macht einen Film über Baldin mit dem Titel: „Das gehört nicht mir“. Julia Baldin ruft die deutsche Botschaft an: „Da kommt ein interessanter Film“.

Zu den Baldins kommen jetzt Journalisten aus aller Welt. Was ausbleibt, ist eine Reaktion der Politiker und auch die Einladungen zu den Ausstellungen der anderen Museen werden spärlicher. „Für meinen Mann war es schlimm“, sagt Julia Baldin. „Dabei hatte ich es getan“. Schließlich kommt doch noch ein Brief. Jelzin schreibt: „Es ist gut, was Sie getan haben“. Er schreibt, das Baldin recht damit habe, dass die Bilder nach Bremen zurückkehren müssten. Es dürfe jedoch kein einseitiger Akt sein.

„Mein Mann hat nie etwas davon gesagt, etwas dagegen zu geben“, sagt Julia Baldin. Aber dann ist sowieso keine Rede mehr von einer Rückgabe. Der Kulturminister überzeugt Jelzin davon, dass eine Rückkehr der Sammlung ausgeschlossen sei. 1993 sind Teile der Sammlung, die jetzt allgemein „Baldin-Sammlung“ heißt, in der Ermitage in Petersburg und anschließend in Moskau zu sehen. Ein Filmemacher bittet Victor Baldin, das Auffinden der Bilder in Kyritz nachzustellen. Baldin erleidet dabei einen Herzanfall. „Er hat drei Herzanfälle über diese Geschichte bekommen“, sagt Julia Baldin und es ist einer der wenigen Momente, in denen sie bitter klingt. 1997 stirbt Baldin.

Im russischen Fernsehen hat sich kürzlich ein Politiker gewundert, was Victor Baldin in den beiden Jahren in Sagorsk mit den Bildern getan habe. Und deutete an, dass Baldin sicherlich einige davon verkaufte.