Babel mobil

Drei Bremer Schüler erleben Europa aus der Sicht einer Theatercompagnie: Mit der multinationalen Produktion „Addio Mamma“ kamen sie bis Süd-Bulgarien

Von Henning Bleyl

Diesmal trifft sich Europa in der staubigen Fußgängerzone von Plovdiv. Drei Sizilianer, zwei Franzosen, drei Bremer und drei Bulgaren, alle zwischen acht und 14 Jahre alt. Der doppelte südeuropäische Wangenkuss setzt sich als Begrüßungsritual durch – für die Norddeutschen eigentlich ungewohnt, aber sie kennen sich ja alle schon seit zwei Jahren. Seit sie, zusammen mit den Profis der Theatercompagnie „Image Aigue“, das Stück „Addio Mamma“ entwickelt haben. Nun treten sie damit in ihren jeweiligen Herkunftsstädten auf, wo sie damit allerhand Aufsehen hervorrufen.

Das „Addio Mamma“ am Bremer Flughafen hingegen war eher unspektakulär. Die Eltern sind an die Tournee-Ausflüge ihres Nachwuchses mittlerweile gewöhnt, die Kinder ihrerseits sind routinierte Reisende. „Ich geh’ mir noch eben Kaugummis holen, wegen dem Druckausgleich“, sagt der zehnjährige Dominik lässig. Dann geht es mit dem Flieger zum Zwischenstopp nach München. Dort muss Ina, die Reisebegleiterin der Bremer Schüler, den Bundesgrenzschutz erstmal davon überzeugen, dass sie keinen Kinderhandel betreibt. „Die drei gehören zu einem europäischen Kinder- und Jugendtheaterprojekt“, erklärt sie, „wir sind Weltklasse-Schauspieler, ey“, trägt Dominik aus dem Hintergrund bei. Nicht zuletzt für die Entwicklung des Selbstbewusstseins erweisen sich die Mittel aus dem EU-Topf „Kultur 2000“, die das Projekt ermöglichen, als gut investiert. Auch die jeweiligen Teilnehmerstädte, in denen umfangreiche Auswahl-Workshops mit interessierten Schulklassen stattfanden, sind finanziell beteiligt.

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Durch einen Hintereingang stolpern wir morgens ins Theater von Plovdiv. Nicolas, der Manager von „Image Aigue“, ist sicher, den Weg zu finden, schließlich war er am Vortag schon mal da. Gleich soll die Pressekonferenz für die bulgarischen Kollegen beginnen, aber überall stehen Requisitenreste im Weg. Wir verheddern uns in den Zwischenvorhängen, die kleinen Türen zum Bühnendurchgang sind verschlossen. Endlich hört einer der Hausmeister unser Gerumpel und sorgt für Licht. Sein leises Lachen klingt ein bisschen triumphierend – soll doch keiner sagen, vom alten sozialistischen System sei überflüssiges Personal übernommen worden.

Die Pressekonferenz: Sogar „Eurokom“, der bulgarische Kabelsender, ist gekommen, um über das in zwei Tagen steigende Theaterereignis zu berichten. Krasimir Obretenov, Kulturreferent der Stadt, betont, wie wichtig gerade die Spiegelung der ethnischen Vielfalt bei „Addio Mamma“ sei. Sarkiz zum Beispiel ist Bulgare armenischer Herkunft, Angel kommt aus einer Sinti-Familie. „Plovdiv war schon immer multikulturell“, erklärt Obretenov, es gebe hier auch griechische und jüdische Viertel – „aber das sind keine Ghettos!“ Finanziell gesehen ist Plovdiv weniger reich ausgestattet, gerade mal 400.000 Lewa (also 200.000 Euro) stehen Obretenov pro Jahr zur Verfügung. Trotzdem war Plovdiv vor fünf Jahren das, was Bremen 2010 gern geworden wäre – „Kulturhauptstadt Europas“.

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Die ersten Proben. Regisseurin Christiane Vericel hat die Truppe auf der Bühne versammelt, unterstützt von drei Dolmetscherinnen beginnt sie, das Stück, das im Februar in der Bremer Schwankhalle Premier hatte, wieder zusammen zu setzen. Es soll sprachlich an das bulgarische Publikum angepasst werden, worüber sich besonders der kleine Sarkiz freut: Er kriegt mehr Texteinwürfe und strahlt über beide Ohren. Der dramatische Fokus von „Addio Mamma“ ist ein Stück Brot, um das sich zwei (oder alle) prügeln. Bis es wieder ein Dritter erhascht und eine neue Jagd beginnt.

Wie erleben die drei Bremer den Trip nach Plovdiv? „Hier sind die Handys voll billig“, ist Torben aufgefallen. Hecham mag die kleinen, verwilderten Katzen, die überall herumlaufen. Bemerkenswert ist auch das Eis: Es sind riesige Kugeln, die nach Gewicht verkauft werden. Hecham, der das qua Herkunft wissen muss, meint noch: „Das ist hier fast wie im Libanon. So kleine Straßen und ganz viel kaputt“ – da überqueren wir gerade die Reste der antiken Pferderennbahn, die den Beginn der Fußgängerzone markiert. Vier Tage multikulturelles Lernen liegen noch vor uns.

Der zweite Tag beginnt mit der Moral. Christiane hat sich die Proben des Vortages auf Video angeschaut und festgestellt: „Es gibt zu viele Kinder, die schlecht spielen.“ Nämlich unkonzentriert und gelangweilt. Per Übersetzung verdreifacht sich die Kritik: „Ihr müsst professionell sein. So wie die anderen Künstler hier im Haus.“ Damit meint Christiane zum Beispiel den Plovdiver Opernchor, dessen in der Tat beeindruckende Einsingübungen schon die gestrige Pressekonferenz übertönt hatten. Vor zwei Monaten war das Ensemble im Rahmen seiner Deutschland-Tournee in Bremen, der gewaltige „Aida“-Kopf aus Pappmaché, der auch die Bremer Galopprennbahn beim Openair-Spektakel zierte, war eine unserer gestrigen Stolperfallen. Die Probe beginnt, Zeit ist knapp.

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Heute hat Kokoschka ihren Einsatz. Wie deus ex machina wird das Hühnchen von Hecham hereingezogen, es thront auf einem geräumigen Leiterwagen und gackert wie von ihm erwartet. Und es flattert immer zum richtigen Zeitpunkt auf, nämlich wenn Rohi, einer der drei erwachsenen Ensemble-Mitglieder, die anderen mit Brotstückchen füttern will. Dabei hat Kokoschka noch viel weniger Zeit zum Proben gehabt: Erst gestern hat der Mann von Svetla, der bulgarischen Übersetzerin, das Tier auf dem Viehmarkt gekauft. Die originale Kokoschka der Compagnie musste in Frankreich bleiben – weil sich Bulgariens EU-Beitritt bekanntlich immer wieder verzögert. Und mit ihm die Vereinfachung der Einreisebestimmungen, was auch für die veterinär-medizinischen Vorschriften gilt.

Nicht nur mit dem Huhn, auch mit den Kindern ist Christiane jetzt zufriedener, Pause. Rohi, der ursprünglich aus Nazareth stammt, erzählt, wie er zur Compagnie gekommen ist: Als 13-Jähriger, als er an einem Workshop der Compagnie mit Palästinensern und Arabern zum Thema „Land“ (hebräisch „Adama“) – und dessen Verteilung – teilnahm. Dann folgte eine Produktion mit der Compagnie nach der anderen, bis er irgendwann vom Kinder-Schauspieler zum professionellen Mitglied wurde.

Zurück nach Plovdiv. Was macht das interkulturelle Lernen? Es begegnet uns wieder in Gestalt des Desserts nach dem Mittagessen: Banane an Feta-Käse. Für deutsche Zungen eine eher ungewohnte Kombination, aber Hecham stell fest: „Das schmeckt eigentlich ganz gut.“ Was freilich nicht langt, um seine Mitdeutschen zum Probieren zu bewegen. Morgen ist die erste Aufführung.

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Nicht nur die Plovdiver Medien, auch die Zeitungen aus Sofia haben ausgiebig über die Ankunft von „Image Aigue“ berichtet. Das neue Huhn erweist sich dabei als besonders fotogen. Genauso wie die lokalen Stars der Compagnie. Angel, Kardam und Sarkiz sind bei mehreren Workshops ausgewählt worden, an denen insgesamt 200 Plovdiver SchülerInnen teilgenommen hatten. Entsprechend erfreut waren sie selbst – und ihre Eltern. Zumal sie ohne „Addio Mamma“ wohl kaum derart herumgekommen wären, wie in den vergangenen zwei Jahren. Sarkiz Mutter arbeitet als Putzfrau, Angel kommt aus einer – auch nicht sonderlich begüterten – Sinti-Familie. Nun aber ist ihr großer Tag gekommen: Die Premiere von „Addio Mamma“ in Plovdiv; zum ersten Mal können die Familien sehen, was ihre Sprösslinge in der weiten Welt so treiben. Kardam kündigt 16 Cousins an, bei Angel sind es nur sieben, dafür wird die in der Türkei lebende Großmutter anreisen.

Auch der Vertreter der „Alliance Française“, die die Organisation vor Ort übernommen hat, ist sich der allgemeinen Bedeutung sehr bewusst. „Ihr habt eine große Verantwortung“, sagt er in einer Ansprache, kurz bevor es losgeht. „Ihr werdet Europa repräsentieren, ihr seit die Botschafter aller Kinder.“ Wie kommt die staatstragende Ansprache bei den Kindern an? „Ich bin voll aufgeregt“, flüstert Dominik auf der Bühne.

Dann aber ist alles halb so wild, zumal der große Saal – warum auch immer – nur zu einem Drittel gefüllt ist. Auf der Bühne geht alles seinen zigfach geprobten Gang. Aus dem Boden wachsen fünf blecherne Entlüftungstürme als Kulisse, das große weiter vorn liegende Metallknie bewährt sich als geniales Spielelement. In dem man nicht nur verschwinden kann, sondern das auch als Wippe taugt, auf der man andere nach Brot schnappen lässt. Warum spielen Kinder, die immer satt werden, ein Stück über den Hunger? Weil er für die Gier nach allem Möglichen steht, sagt Christiane. Zum Beispiel für das Bedürfnis nach Anerkennung. Und der kriegerische Hintergrund der Szenerie ist für manche Kinder eine ziemlich reale Erfahrung. Für Hecham, dessen Familie aus der Nähe von Beirut kommt, sowieso. Aber auch Dominik weiß durchaus, was Krieg bedeutet. Vor kurzem ist sein Vater, ein Berufssoldat, aus Afghanistan wieder gekommen. Mit ihm nur 23 der 25 Angehörigen seiner Einheit.

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Auf der Bühne mischen sich jetzt die Szenen. Angel hat sein Brot an Franck verloren, sein kleiner, lebloser Körper wird von dem Bühnenschnee zugedeckt – über den die bulgarischen Techniker am Ende des Tages immer schimpfen. Es ist ein starkes Bild, unterstützt von Louis Sclavis melancholischen, gleichzeitig sehr klaren Klängen. Sclavis, Frankreichs führender Bass-Klarinettist, hat „Image Aigue“ vor 22 Jahren mitgegründet.

Zusammen mit Christiane Véricel. Die führt ein strenges choreographisches Regiment, zum Aufwärmen springt man nach einem vorgegeben Code über die Bühne, Christiane verlangt Konzentration und körperliche Präzision. Mit diesem Konzept hat sie in den multiethnischen Vororten von Lyon und St. Etienne angefangen und es seit dem weltweit – ob in brasilianischen Favelas, in Israel oder Südkorea – erprobt. Nach der Aufführung in Plovdiv sagt sie zu den Kindern: „Ihr wart gut. Aber um professionell zu sein, müsst ihr immer gut spielen.“

Nach Plovdiv geht es noch nach Palermo, der voraussichtlich letzten Station des gesamten Projektes. Danach beginnt für Torben, Hecham und Dominik ein Leben ohne „Addio Mamma“ – auch ohne Theater? Für Torben schon: „Ich hab dann erstmal genug um die Ohren, mit Fußball, Konfi und dann auch noch Französisch in der Schule.“ Letzteres wird ihm wohl nicht schwer fallen. Schließlich hat er zwei Jahre lang immer wieder in einem mobilen Babel gelebt.