Helmholtzplatz, Prenzlauer Berg: In den Verlagsräumen sind Lektorin Meike Rötzer und Praktikant David Rupp Teil des „Thinktanks“ Matthes & Seitz

Die Nische polieren, bis sie glänzt

FREIRAUM Matthes & Seitz ist der Verlag der Stunde. Die Bücher gewinnen Preise, abseitige Autoren macht das kleine Team in Prenzlauer Berg zum Verkaufsschlager. Was ist ihr Erfolgsrezept?

Von Susanne Messmer
Fotos Karsten Thielker

Natürlich ist es ein Zufall. Und trotzdem: Es ist ein schönes Sinnbild, dass es den Berliner Verlag Matthes & Seitz ausgerechnet in die Göhrener Straße in Prenzlauer Berg verschlagen hat, die auch Göhrener Ei genannt wird, wegen ihrer seltsamen, runden Hufeisenform. Es ist, als säße man hier, in den Verlagsräumen von Matthes & Seitz, die sich über zwei kleine, gegenüber liegende Ladengeschäfte verteilen, im Auge eines Sturms. Gleich um die Ecke wimmelt es rund um Helmholtz- und Kollwitzplatz: die Fresstempel, die Szenebars, die Kindercafés.

Denn solche Aufgeregtheiten lassen Andreas Rötzer, der den Verlag Matthes & Seitz vor zwölf Jahren in Berlin neu gründete, kalt. Der 44-Jährige unterhält sich lieber mit sanfter Stimme über seine Werkausgabe zu Warlam Tichonowitsch Schalamow, zu der ihn ein Buch eben jenes Autors inspirierte, das er im Antiquariat ausgegraben hatte. Die Werkausgabe führte zu einer Neuentdeckung der Texte des russischen Autors in Deutschland. Seine Bücher gehören zu den wichtigsten Schriften über die Gulags, die sowjetischen Zwangsarbeiterlager.

Auch spricht Rötzer gern über das verworrene Diagramm hinter seinem Schreibtisch, das vom Berliner Künstler und Phi­lo­sophen des „überstürzten Denkens“ stammt: Markus Steinweg, der gerade in aller Munde ist.

Oder über das erste Kinderbuch in seinem Programm, ein Buch über zwei Wale von Esther Kinsky, die für ihren letzten Roman bei Matthes & Seitz gerade den Chamisso-Preis, eine renommierte Auszeichnung, bekommen hat.

E-Books? E-Reader?

„Das wird so in Deutschland nicht mehr kommen“, sagt der Verlagschef. „Das ist nur eine Brückentechnologie“

Andreas Rötzer, ein blasser schmaler Mann mit verschmitztem Lächeln, unterhält sich also am liebsten über Nischen. Über Nischen, die er so gründlich poliert und entstaubt, bis sie sehr viele Leser sehr sexy finden.

Hier, im Göhrener Ei, hat Andreas Rötzer, in aller Seelenruhe einen Verlag entwickelt, der gerade als Verlag der Stunde gefeiert wird – von Kritikern, von Buchhändlern, aber auch und vor allem von seinen Lesern. Im letzten Herbst hat er mit einem seiner Bücher den Deutschen Buchpreis gewonnen. Man erzählte sich auf der Frankfurter Buchmesse, den neuen Roman von Frank Witzel – ein Autor aus dem Hessischen, den bis dato nur wenige kannten – dieser neue, sperrige Witzel mit seinen 800 Seiten, den habe keiner haben wollen, bis er dann bei Matthes & Seitz landete. Nächste Woche machen Matthes & Seitz auf der Buchmesse in Leipzig schon wieder von sich reden. Gleich zweimal wurden sie für den Leipziger Buchpreis nominiert, im Segment Sachbuch und Übersetzung.

Aber was ist der Grund für die Preise, was macht Matthes & Seitz so erfolgreich? Wie um alles in der Welt schafft es dieses gerade mal achtköpfige Team, etwa 50 Bücher im Jahr zu veröffentlichen, die gleichzeitig abseitig und stachelig sind, unterhaltsam und schön, gut verkäuflich und viel rezipiert? „Wir funktionieren wie ein Thinktank“, bringt es Verlagschef An­dreas Rötzer selbst auf den Punkt.

Und wirklich: Nicht nur hier in den Verlagsräumen hat man das Gefühl, dass bei Matthes & Seitz viel passiert. Dass hier alle sehr viel arbeiten, noch mehr wagen, und dass hier jeder mit jedem über alles spricht – ganz egal, ob gerade einer der Lektoren, Tilman Vogt oder Meike Rötzer, auf einen Sprung herüberkommen oder kurz eine Übersetzerin hereinschneit.

Verlagsleiter Andreas Rötzer: ein Verrückter, ein Ehrfürchtiger, der von sich sagt, dass er alle seine Bücher liebt

Und die Fans und Leser der Bücher dieses Verlags? Sie haben auch in vielen Buchhandlungen, von denen einige in dieser Stadt eine eigene Ecke für den Verlag eingerichtet haben, das Gefühl, abgeholt zu werden. Sie haben das Gefühl, an etwas teilnehmen zu dürfen, was sich frisch anfühlt und aufregend. Auch die Autoren von Matthes & Seitz sehen das so: „Die machen gerade den Diskurs“ – so formuliert es Zora del Buono, die kürzlich ihr bislang erfolgreichstes Buch bei Matthes & Seitz veröffentlicht hat, „Das Leben der Mächtigen“, ein Buch über Bäume, das in der Reihe „Naturkunden“ erscheinen ist.

Überhaupt, die „Naturkunden“. Vielleicht lässt sich an ihnen am besten erzählen, was Mat­thes & Seitz anders machen als die anderen und welche Lesergruppen der Verlag sehr gezielt bedient. Gegründet hat Rötzer sie vor vier Jahren, gemeinsam mit der Autorin Judith Schalansky, die die Reihe herausgibt. Die Idee: Das sogenannte Nature Writing nach Deutschland zu holen, das literarische Schreiben über Natur, das in den USA eine lange Tradition hat. Die „Naturkunden“, bislang 26 bibliophile Bücher, schlugen voll ein: besonders die Tierporträts, 18 Euro teure Bändchen über unterschätzte Tierarten wie Krähen, Schweine, Esel. Viele von ihnen erreichten Auflagen im fünfstelligen Bereich.

Die „Naturkunden“-Reihe: analoge Gegenwelten

Es ist, als seien die „Naturkunden“ direkt auf die Bedürfnisse einer sehr bestimmten Zielgruppe hin konzipiert worden. Die Bücher sind hübsch illustriert, auf schönem Papier in Deutschland gedruckt, einige haben sogar teuren Kopffarbschnitt: das heißt, die Schnittkanten der oberen Seitenränder sind farbig. Die „Naturkunden“-Bändlein sind ein Statement in einer Buchbranche, die in Zeiten zunehmender Digitalisierung im Umbruch ist. „Digitalisierung?“, fragt Andreas Rötzer nur zurück und wischt mit einer nonchalanten Bemerkung das Thema E-Books und E-Reader vom Tisch. „Das wird so in Deutschland nicht mehr kommen“, sagt er. „Das ist nur eine Brückentechnologie.“

Die Leipziger Buchmesse findet in diesem Jahr vom 17.–20. März statt. Sie ist der wichtigste Branchentreff neben der Frankfurter Buchmesse im Oktober. 251.000 Besucher kamen 2015, davon rund 55.000 Fachbesucher.

Die taz ist wieder mit eigenen Veranstaltungen im taz-Studio in der Halle 5 vertreten: Am Donnerstag gibt es u. a. ein Werkstattgespräch mit dem Spiegel-Journalisten Volker Weider­mann („Literarisches Quar­tett“). Am Samstag stellt die britische Star- Feministin Laurie Penny ihre neuen Kurzgeschichten („Babys machen und andere Storys“) vor.

Das ganze Programm online: www.taz.de (taz)

Die „Naturkunden“ treffen eine Sehnsucht vieler Großstädter – besonders vielleicht all jener, die sich eher mit Google Maps durch die freie Natur bewegen als zu Fuß. Die aber trotzdem finden, in dieser Welt sei alles in viel zu großem Maße erklärt, begriffen, erforscht und vermessen. Es sind genau diese Leser, die finden: Die Natur ist eine analoge Gegenwelt. Sie ist das letzte Funkloch, in dem wir Kontakt zum Außeralltäglichen aufnehmen können. Auch wenn wir natürlich wissen, dass selbst die wildeste Landschaft schon längst kein unbeschriebenes Blatt mehr ist.

Verlagsleiter Rötzers ist der Sohn eines Metzgers und einer Angestellten. In deren Haushalt gab es nur ein Buch, nämlich eine Ausgabe von Leo Tolstois „Anna Karenina“. Bis heute, sagt er, verspürt er eine Art „Bildungsnachholbedürfnis“. Nach dem Studium musste Rötzer sich seine Promotion finanzieren. Also fing er als Buchhalter beim alten Verleger Axel Matthes an, der Matthes & Seitz 1977 mit Claus Seitz gegründet hatte. Damals hatte der Verlag Kultstatus, es war ein 68er Verlag, Matthes & Seitz verlegten vor allem die französischen Renegaten der Avantgarde in Deutschland: Antonin Artaud und George Bataille zum Beispiel, die bis heute weitergeführt werden von Rötzer. „Das hatte für mich einen großen Zauber“, sagt er, „ich war anfangs sogar ehrfürchtig.“

Vielleicht musste genau so einer kommen wie Andreas Rötzer, um einen solchen Verlag in Schwingungen zu versetzen. Ein Verrückter, ein Ehrfürchtiger, der von sich sagt, dass er alle seine Bücher liebt. Aber auch ein Marketingexperte, der es versteht, schwierige Literatur als Hochgenuss zu verkaufen.

Autorin Zora del Buono: „Wie in einer Familie“

Themen entdecken, Experi­mente wagen und damit für eine Zielgruppe publizieren, die genau dies schätzt, die sich eingebunden fühlt in diesen „Vi­bra­tions- und Kommunikationsraum“, wie der Verlag einmal beschrieben wurde: Das ist es, was Matthes & Seitz besser kann als viele andere, auch viele andere größere Verlage.

Und das finden auch die Autoren bei Matthes & Seitz. Zum Beispiel Zora del Buono mit ihrem Buch über Bäume, über das sie anderntags bei einem Spaziergang durch den Kreuzberger Viktoriapark erzählt. Von Anfang an habe sie sich „verstanden“ gefühlt vom Verlag, aufgenommen „wie in einer Familie“. Stunden habe sie mit ihrer Lektorin telefoniert. Was zählt es da schon, dass sie, obwohl das Buch sicher in die dritte Auflage geht, bislang gerade mal ihre Reisen zu den Bäumen in ganz Europa und Amerika refinanziert hat?

„Bei mir steht die Ökonomie erst an dritter oder vierter Stelle“, sagt auch Philipp Schön­tha­ler an einem Morgen voller Frühlingslicht im Kreuzberger Café. Sein drittes Buch, ein Sachbuch über den Survival-Trend in den 80er Jahren, als sich wohlsituierte Westeuropäer freiwillig in Urwäldern aussetzen ließen, ist gerade bei Matthes & Seitz erschienen.

Die Bücher: abseitig und stachelig, unterhaltsam und schön

Selbstausbeutung? Ja sicher, sagt der Verlagschef

Er fühle sich hier vor allem unterstützt und inspiriert, sagt Schön­thaler. Sein Buch entstand aus der Idee zu einem Aufsatz. Andreas Rötzer ermutigte ihn, mehr daraus zu machen. Und als er sein erstes Manuskript lieferte, riet ihm Lektor Tilman Vogt, es um literarische und popkulturelle Bezüge anzureichern, es damit anschlussfähiger zu machen. Was macht es da, dass Schönthaler, der erst vor Kurzem beschlossen hat, die Uni endgültig zu verlassen und freier Autor zu werden, noch nicht so genau weiß, ob er durch diese literarische Nische, die er da gefunden hat, eines Tages die Miete wird zahlen können. Er ist in einem Laden gelandet, wo Dinge ermöglicht werden. Das ist ihm das Wichtigste.

Autor Philipp Schönthaler: Absatzzahlen? Zweitrangig

Selbstausbeutung? Ja sicher, sagt Rötzer. Ausbeutung der Autoren, bei kleinen Verlagen oft ein Thema? Die Vorschüsse bei Matthes & Seitz können sich, auch in den Fällen Zora del Buo­no und Philipp Schönthaler, mit denen der großen Konkurrenz messen, sagt Rötzer. Außerdem war Rötzer auch vier Jahre Buchhalter bei einem Verlag, der damals mit dem Rücken zur Wand stand. Als Rötzer den Verlag kaufte, gab es bei Matthes & Seitz nur noch acht laufende Projekte. Heute sind es an die 200, sagt er. Bilanzieren muss Rötzer auch können, ohne rechnen geht es nicht.

Und was macht er mit dem Geld, das er zum Beispiel durch den Deutschen Buchpreis für Frank Witzel verdient hat? Der vielleicht wichtigste Buchpreis im Lande treibt die Auflagen zuverlässig in die Höhe. „Bisher haben wir nur eine höhere fünfstellige Stückzahl verkauft“, winkt Rötzer ab, Auflagen wie diese sei man gewohnt.

Erst später verrät Andreas Rötzer: Es wird dank Buchpreis ein Stipendium geben: für Naturschriftsteller. Auf einer Insel bei Rügen. Die ist nicht einmal einen Quadratkilometer groß. Eine Art Göhrener Ei unter den Inseln.