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FORTUNA-PUNKS Skeptisch blickte der Hertha-Fan dem Gastspiel der Toten Hosen entgegen. Dann aber haben sie ihn voll erwischt. Die Max-Schmeling-Halle tobt, die Bengalos zünden, You’ll never walk alone

Auf dem ersten Rang hisst jemand die Hertha-Flagge, Campino und Andi stürzen sich ins Publikum

VON JURI STERNBURG

Als sich die Toten Hosen vor 30 Jahren in Düsseldorf gründen, dauert es nur noch wenige Wochen, bis ich geboren werde. 15 Studioalben später verdränge ich, was das für mein eigenes Alter bedeutet, und warte etwas widerwillig auf den Beginn dessen, was eingefleischte Hosen-Fans eher zelebrieren, anstatt nur zu besuchen. In Massen strömen sie zur Max-Schmeling-Halle, ausgestattet mit riesigen Fahnen, Schals und der ehemals wasserstoffblonden Campino-Frisur, die Jeansjacke gerade so zerrissen, dass man etwas punkig aussieht, ohne dabei frieren zu müssen. Man steht im Kreis und stimmt alte und neue Hits an, dazu gibt es Dosenbier und Bratwurst.

Dass viele Hosen-Fans ihre Liebe zu Fortuna Düsseldorf offen präsentieren, muss man als Herthaner „An Tagen wie diesen“ wohl akzeptieren. Der gleichnamige Song aber ist für meine Unlust verantwortlich, war es im vergangenen Jahr doch schwer ihm zu entkommen. Single und Album hielten sich wochenlang auf Platz 1 der deutschen Charts, landauf, landab dudelte der Mitgrölhit, und spätestens als die Band den Song bei „Wetten, dass..?“ playback sang und Hannelore Kraft zugab, den von Campino ursprünglich verschmähten Song „ganz klasse zu finden“, verdrängte ich vollends, mir in der frühen Pubertät das eine oder andere Tote-Hosen-Album gekauft zu haben.

In der Rückbetrachtung wechselte ich ziemlich schnell vom Tote-Hosen- ins Ärzte-Lager, möglicherweise vom Stadionrock zum Spaßpunk oder in welche überflüssigen Schubladen man diese Bands auch immer packen möchte. Umso befremdlicher erscheint es mir, als ich nach den ersten, mir unbekannten Songs und scheinbar bestätigt in meinen Erwartungen bemerke, wie sich längst in den Untiefen meines kindlichen Gehirns verschollen geglaubte Textpassagen reaktivieren. Vergessen geglaubte Songs wie „Pushed Again“ und „1000 gute Gründe“ oder die Tote-Hosen-Version des Liverpool-Klassikers „You’ll never walk alone“ sorgen plötzlich für akute gute Laune, das Publikum beginnt in der Halle Bengalos zu zünden, auf dem ersten Rang hisst jemand die Hertha-Flagge, Campino und Bassist Andi stürzen sich eins ums andere Mal ins Publikum, und das Ganze beginnt tatsächlich unglaublichen Spaß zu machen. Ich bin verwirrt, bin ich doch mit der festen Absicht erschienen, das bierselige und schunkelnde Hosen-Publikum abzulehnen. Auch im engeren Freundeskreis stieß meine Absicht auf ebenjene Ablehnung, es war durchaus kompliziert, die zweite Karte an den Mann oder die Frau zu bringen. Vor der Max-Schmeling-Halle dagegen sah man verzweifelte Gesichter, viele wollten nicht glauben, dass sie es heute Abend nicht in die Halle schaffen werden, einige von ihnen waren aus weit entfernten Städten angereist. So etwas nennt man wohl Fanfamilien.

Dramaturgisch klug aufgebaut knallt uns die Band inzwischen einen Klassiker nach dem nächsten um die Ohren, und als Ärzte-Bassist Rodrigo González die Bühne betritt, um mit den Gastgebern den ultimativen Ärzte-Hit „Schrei nach Liebe“ zu performen, haben wir uns längst in den wegen Überfüllung seit Stunden gesperrten Innenraum geschmuggelt und beobachten die Sitzplatzzuschauer mit Verachtung. Die Toten Hosen waren und bleiben wohl Musiker, die gern Fußballstadionatmosphäre verbreiten, und damit sind sie erfolgreicher und beliebter denn je. Eine Band, die entweder frei von jeder Selbstironie oder eventuell auch ganz bewusst „Und immer wieder / sind es dieselben Lieder“ textet, hat das auch nicht anders verdient.