Es gibt keine große Erzählung der Deutschen

SELBSTKRITIK Wie sehr das Bild der Geschichte vom jeweiligen Blickwinkel abhängt, zeigt eine Gemäldeausstellung im Deutschen Historischen Museum. Das führt so seinen Auftrag, eine offizielle Darstellung der Historie zu geben, ad absurdum

Das Gemälde zeigt eine Getreideernte. Hoher Wolkenhimmel, eine idyllische Landschaft. Im Vordergrund der Szene ein Feldweg, wo Mann, Frau, Kind und Hund aufeinandertreffen. Mitten im Heu ragt ein qualmender Auspuff in die Höhe. Hier ist eine Dreschmaschine im Einsatz. Sie ist das eigentlich Besondere an diesem Bild. Und auch der Grund, warum das 1882 entstandene Gemälde in die Sammlung des Deutschen Historischen Museums (DHM) gelangte.

Das wird durch den Vergleich mit dem daneben gehängten Bild in der aktuellen Ausstellung des DHM deutlich, die den Titel „Im Atelier der Geschichte“ trägt. Sie umfasst 100 Gemälde, ihr Anlass ist das 25-jährige Bestehen des vom Bund getragenen Geschichtsmuseums. Nicht eine Mecklenburger Flachlandschaft wie im ersten Fall, sondern die Gegend um Stuttgart ist auf dem Nachbarbild zu sehen. Es ist knapp 40 Jahre früher entstanden. Die Ernte ist hier noch ganz Handarbeit. Dutzende von Menschen sind damit beschäftigt, mit der Sichel zu mähen, die Garben zu binden und auf den Heuwagen zu stapeln.

Die Namen der Maler der beiden Bilder wird kaum jemand kennen, und in den großen Kunstmuseen wird man sie vergeblich suchen. Mit dem Bildvergleich wird die Wirkung der industriellen Revolution auf das Landleben illustriert.

„Kann man mit Gemälden Geschichten erzählen?“, fragt der Einleitungstext zu Beginn des Ausstellungsparcours, nur um sofort selbst mit einem „Nein!“ zu antworten. Begründung: „Eine fortlaufende Erzählung zwischen den ausgestellten Werken gibt es nicht.“ Das DHM ist sonst bemüht, eine solche große Erzählung von der deutschen Geschichte abzuliefern. Wie sehr das Bild der Geschichte aber vom jeweiligen Blickwinkel und den Zeitumständen abhängt und wie sehr der Auftrag des Museums, eine offizielle Darstellung der Historie zu vermitteln, damit im Grunde ad absurdum geführt wird, zeigt das Museum nun selbst.

Viele Geschichten

Die aktuelle Auswahl aus dem 2.500 Gemälde zählenden Gesamtbestand des DHM ist zwar chronologisch vom 14. bis ins 20. Jahrhundert geordnet, bietet aber eben kein einheitliches Geschichtsbild, sondern vor allem viele verschiedene Geschichten: Genreszenen aus dem Alltagsleben sind genauso dabei wie Schlachten- und Andachtsbilder oder Herrscherporträts. Selbst NS-Kunst ist hier kein Tabu.

Die Bilder erzählen Geschichten von der Geschichte. Manchmal sind die Leinwände übervoll mit kleinen Anekdoten und Episoden, die sich in einem großen historischen Ereignis verstecken. „Die letzten Stunden der Schlacht bei Leipzig am 19. Oktober 1813“, heißt ein 1863 entstandenes Schlachtenpanorama. Hier geht es nicht nur um ein historisches Ereignis, nicht nur um den „letzten Stoß der preußischen Landwehr auf die zwischen Häusern und Fluss eingekeilten und vergeblich nach einem Ausweg drängenden Franzosen“, wie es ein zeitgenössischer Rezensent beschreibt, sondern um das verzweifelte oder tapfere Ringen von Freund und Feind, Mensch und Tier, soldatischem Individuum und militärischer Phalanx. Der Maler nahm den 50. Jahrestag der Völkerschlacht zum Anlass, seine künstlerische Einbildungskraft und sein malerisches Können zu beweisen. Ein Geschichtszeugnis ist das Bild trotzdem, insofern es den Zeitgeist um die Mitte des 19. Jahrhunderts wiedergibt – inklusive des Bemühens der Maler, die inzwischen existierende Fotografie künstlerisch in den Schatten zu stellen.

Um historische Faktizität ging es den Künstlern in der Regel selten. Wie Karl der Große wirklich aussah oder wie der Prozess um Jan Hus tatsächlich ablief, können und wollen die Jahrhunderte später entstandenen Gemälde nicht zeigen. Auch den Herrscherporträts geht es nicht in erster Linie um ein authentisches Abbild der Person, sondern vor allem darum zu zeigen, wie die Mächtigen gesehen werden wollten. So etwa beim pompösen Napoleon-Bild im kaiserlichen Krönungsornat. Er ist angetan mit goldenem Lorbeerkranz, Zepter und Hermelinmantel. Das 1805 entstandene Gemälde macht Anspruch und Größenwahn des eher kleinen Korsen anschaulich.

Dass solche Bilder eine höchst einseitige, subjektive und ideosynkratische Perspektive vermitteln, tut dem Vergnügen an dieser Schau keinen Abbruch – im Gegenteil. Denn es gibt unendlich viel zu entdecken, wenn man die Gemälde erst einmal im Geiste aus der Oberhoheit einer kunsthistorischen Betrachtungsweise befreit. Dennoch gibt es auch einige großartige Kunstwerke zu sehen. Und es sind – neben Cranach, Raffael oder Corinth – durchaus nicht nur die üblichen Verdächtigen.

RONALD BERG

■ Deutsches Historisches Museum, bis 21. April. Katalog 29,90 Euro